ABATON: Im Bann der Freiheit (German Edition)
klar geworden war, dass er auf diese Weise versucht hatte, seinem Vater nahezukommen. Weil er ihn in seiner Distanz, seinem Schweigen begreifen wollte. In seinem ewigen Kampf für den Kommunismus. Das musste die einzig richtige Erklärung sein. Und weil er nie so hatte sterben wollen wie sein Vater.
Hatte auch das mit Linus zu tun, dass er das alles plötzlich so klar analysieren konnte? Mit dem, was er für diesen Jungen empfand? Erkannte er sich in Linus wieder? Olsen konnte das nur vermuten, konnte es nur hoffen.
Die Erinnerung an seine Jugend blieb gelöscht. Seine schrecklichen Taten an den Kriegsschauplätzen dieser Erde hatten sich so tief in sein Hirn gegraben, dass für Privates kein Platz zu sein schien. Olsen entschloss sich, das zu akzeptieren. Kein Gedanke mehr an die Vergangenheit. In der Gegenwart gab es noch etwas Wichtiges für ihn zu tun. So viele Leben hatte er als Söldner zerstört ... dieses eine Leben, das Leben von Linus, wollte Olsen unbedingt retten.
„Sind Sie sein Vater?“ Die Ärztin hatte Olsen auf die Schulter getippt. Er war in seinem Sitz eingenickt. Draußen begann es schon wieder zu dämmern. Olsen schreckte hoch, sah die Frau irritiert an.
„Der Junge ... der mit der Schusswunde ... Sind Sie sein Vater?“
Olsen begann den Kopf zu schütteln und hielt gleich wieder inne. Er wusste, dass er nur erfahren würde, wie es um Linus stand, wenn er als Verwandter galt.
„Sein Großvater“, sagte er heiser, ohne die weiteren Konsequenzen zu bedenken. „Wie geht es ihm?“
„Das wissen wir, wenn er aus der Narkose aufwacht.“ Die Ärztin betrachtete Olsen. „Wer hat auf ihn geschossen?“
Olsen zuckte mit den Schultern.
„Die Polizei wird bald hier sein. Wir haben es melden müssen, dass wir jemanden mit einer Schusswunde haben.“
„Ich weiß. Ja.“
Die Ärztin musterte Olsen noch einmal, wunderte sich, dass er so selbstverständlich klang, und wandte sich ab.
„Linus wird überleben?“, rief Olsen ihr hinterher.
„Das liegt in Gottes Hand.“
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„Brot?“
Simon schüttelte den Kopf.
„Was zu trinken.“ Simon klang immer noch mürrisch.
Schifter stand auf und kam mit einem Glas und einer Flasche Matetee zurück. Während Simon einen Teller Nudeln herunterschlang, die er ihm in der Kombüse mit einer Sauce aus dem Glas auf einem Gasherd warmgemacht hatte, setzte sich Schifter zu ihm.
„Sind bald am Ziel ...“, sagte er.
„Wo fahren wir hin?“, wollte Simon wissen. Das Essen beruhigte und erdete ihn. „Hamburg? Oder London?“
Schifter schüttelte den Kopf.
„Zu einer Art kleiner Inselgruppe, hier vor der englischen Küste. Wir werden mit Schlauchbooten übersetzen.“
Erschrocken starrte Simon Schifter an.
„Ich will das nicht! Ich will zurück, nach Mannheim. Ich will das alles nicht mehr, verdammt noch mal!“
Simon sprang auf und starrte Schifter an. Schifter blieb gelassen.
„Wir haben einen Plan – einen großen Plan, den wir nicht aufschieben können und der mit euch zu tun hat. Wir wollen eine Brain-Cloud mit euch bilden.“
Mürrisch blickte Simon Schifter an. „Hört das denn nie mehr auf?“, fragte er und schob den fast leeren Teller von sich. „Kann ich vielleicht mal erfahren, wer ihr überhaupt seid, bevor ich mich vor euren Karren spannen lasse?“
Simon wandte sich um, marschierte aus der Messe in den Nebenraum und warf wütend die Tür hinter sich zu.
Schifter atmete durch. Und lächelte. Simon war einer seiner komplizierteren Fälle. Das kannte er nur zu gut. Oft schon hatte er erlebt, dass Menschen, die er begleitete, davor scheuten, ihr vollkommenes Potenzial auszuschöpfen. Eltern, Freunde, die Gesellschaft, in der sie aufgewachsen waren ... all das hämmerte mit Weisheiten wie „Bescheidenheit ist eine Zier“ auf sie ein; „Hochmut kommt vor dem Fall“; „Sei getreu bis in den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben“. Was für ein dummes Zeug, dachte Schifter. Warum erkannte niemand, dass es sich dabei nur um Formulierungen der Mächtigen handelte? Schon seit Anbeginn war das so. Schifter konnte sich erinnern. Sein Weg als Begleiter durch alle Zeitalter hatte ihm dennoch nicht den Glauben an die Menschheit nehmen können. Er war da, um Menschen zu ihren besten Fähigkeiten zu führen, doch es blieb immer ihre freie Entscheidung, ihm zu folgen. Oft hatte er bedauert, dass Schützlinge lieber den scheinbar einfacheren Weg der Masse gingen. Ein einziges Mal sogar hatte er einem Schützling seine
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