ABATON: Im Bann der Freiheit (German Edition)
schüttelte den Kopf – was für ein Dummkopf er doch gewesen war. Sein Leben lang hatte er an den ger a den Weg der Menschheit zum Guten geglaubt. Hatte für sich eine Möglichkeit gefunden, diesen Glauben in eine Theorie zu verwandeln. Seine Theorie der Konstanten. Nun m usste er sich eingestehen, dass er sein ganzes Handeln der Wahrheit d i eser Theorie untergeordnet hatte. Sogar Marie, seine Tochter, hatte er der Gefahr ausgesetzt, dem Böse n ins Auge zu sehen. Nur um nicht an seiner Theorie zweifeln zu müssen. Dieser Krieg jedoch war der Bele g , dass der konstante Weg des Menschen zum Guten eine Farce war. Ein naives Wunschdenken. Und dem hatte er alles geopfert. Er hatte Marie verloren und stand vor den Trümmern seiner Überzeugung.
Bernikoffs Reise nach England w ar der Versuch, ihn von seinem Verzweifeln über sich, seine Arbeit ... über die Welt zu erlösen. Er hatte Kontakt zu Wissenschaftlern und Phil o sophen in Lo n don aufgenommen, die angesichts d es endlosen Krieges so ähnlich dachten wie er. Doch nun war klar, dass er England ni e erreichen würde.
Bernikoff spielte mit dem kristallenen Ve r schluss der Karaffe, den McQueen nicht wieder auf den gläsernen Hals der Flasche gesetzt ha t te. Er ähnelte einem runden, spitzen Kegel. Bernikoff hing dem Gedanken an die wiederkehrenden Versuche der Erw e ckung der Menschheit nach, während seine Finger um das Rund des Kege l s kreisten. Und plötzlich stand es vor ihm in aller Klarheit. Ein Gedanke, der ihn elektrisierte. Die Konstant e war ein Irrweg. Natürlich. Warum hatte er das nicht erkannt? Es war der Kegel. Das Sinnbild für den Weg der Menschen. Es gab Hoffnung.
Bernikoff suchte nach Pa p ier und Schreibzeug, fand es und begann, wie im Fieber zu notieren ... Er hörte nicht die nahenden Motoren der deutschen Bomber, die im Morgengrauen ihren Weg nach London flogen. Erst das Fl a kfeuer der stählernen Insel ließ Bernikoff hochschrecken. Einen Moment war es still, dann näherte sich das Geräusch eines hochdrehenden Motors. Immer unerbittlicher kam es heran. Immer lau t er. Bernikoff schaute durch das Bullauge auf das Meer und sah die brennende Maschine mit ohrenbetäubenden Schreien in die Wellen stürzen. Für einen Moment glaubte Bernikoff, das entsetzte Gesicht des jungen Piloten zu sehen. Dann war alles wieder still.
Bernikoff setzte sich zurück an den Tisch und schrieb weiter. Das Sterben musste ein Ende h aben. Und er musste seinen Teil dazu beitragen ...
TEIL [01]
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In nassen Flocken fiel der Schnee auf das dämmernde Berlin. Je näher er der Stadt kam, desto bunter glitzerten die Kristalle, desto hektischer spiegelte sich in ihnen das rotierende Flirren aus Blau und Rot.
Unzählige Rettungswagen verstopften die Rampe zur Notaufnahme des St.-Marien-Krankenhauses und immer noch dröhnten weitere Sirenen durch die endende Nacht. „Massenkarambolage auf der Avus“, meldete der Verkehrsfunk im Viertelstundentakt und reduzierte die Tragödie auf die Länge des Staus. Kein Wort über die Schreie vor Schmerz. Das Weinen, das Wimmern, die Resignation. Das Rangeln, Bitten, Flehen einiger Angehöriger um bevorzugte Behandlung.
Mit kurzen, energischen Befehlen versuchten Notärzte und Pfleger das Chaos zu ordnen. Unermüdlich rollten Tragen von den Ambulanzen in die Klinik. Im Dauerlauf wurden Tropfe gelegt und erste Diagnosen gestellt. Parallel zu einer improvisierten Reanimation forderten Stimmen frische Blutkonserven an. Pfleger verbannten die Schaulustigen vom Ort des Geschehens und alle dienstfreien Ärzte wurden aus ihrem Wochenende zurück in die Klinik beordert. Der aufkommende Wind schnappte sich ein paar der zerknüllten, goldenen Wärmefolien und wirbelte sie durch die Luft wie taumelnde Weihnachtsengel.
Inmitten des Kampfes um Leben und Tod stand plötzlich ein alter Mann. Er trug den leblosen Körper eines Jungen auf dem Arm. Nur kurz hielt er inne, dann ging er durch das Chaos hindurch zielstrebig weiter auf die Notaufnahme zu.
„He! Sie!“, rief eine Ärztin. „Der Reihe nach. Anders geht’s hier nicht!“
Unbeirrt schritt der Mann weiter. Für sein Alter besaß er erstaunliche Kraft, denn der Junge auf seinem Arm war sicher schon fünfzehn Jahre alt.
Die Ärztin holte ihn ein, stellte sich vor ihn.
„Wir können niemanden bevorzugen. Tut mir leid“, sagte sie energisch und blickte dem Mann in die Augen. Ihr Blick traf auf eine Entschiedenheit, die sie verstummen ließ.
„Der Junge stirbt“, sagte
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