ABATON: Im Bann der Freiheit (German Edition)
die dritte Dimension erheben. Verstehst du? Eine Spirale ... wenn man sie am innersten Punkt in die Höhe hebt und der äußerste Punkt bleibt fixiert am Boden, dann sieht es so aus ...“
„... als legte sich eine Linie um einen Kegel“, beendete Greta den Satz. Sie konnte sich das Bild sehr gut vorstellen. „Aber was war seine neue Theorie?“
„Er ging nicht mehr von einer linearen Entwicklung zur Erkenntnis aus, sondern von einem Weg, der sich wie eine Spirale nach oben windet. Man begegnet in seinem Leben also immer wieder den gleichen Problemen, nur eben auf einer anderen Ebene. So windet sich der Weg zum Guten. Zur Erleuchtung, an der Spitze des Kegels. Wo das Böse dann von selbst verschwunden ist. Und mit ihm das Gute. Weil man es nicht mehr braucht.“
Greta schaute Bixby an und zweifelte.
„Er hat mir damals nichts davon erzählt“, erinnerte sie sich. „Aber das hätte er getan. Er hatte doch nur mich, mit der er reden konnte. Verstehst du? Nur mich!“
Greta spürte, wie die Glaubenssätze ihres Lebens zu bröckeln begannen. Das wollte sie nicht zulassen.
„Er hätte es mir gesagt“, bekräftigte sie noch einmal laut und deutlich. „Du lügst, William. Du lügst!“
Mit einem Ruck hatte sie sich auf ihren Absätzen umgedreht und war entschlossen davongestakst.
Doch jetzt hatte Greta ihre Entschlossenheit verloren. Der fehlgeschlagene Versuch, die Aufzeichnungen von Marie auf sich zu übertragen, hatte ihr alle Kraft und Zuversicht genommen. Es war einfach zu viel, was in den letzten Stunden geschehen war, und wenn sie ehrlich zu sich war, dann musste sie zugeben, dass das Auftauchen von William von allem bisher das Schlimmste gewesen war.
All die Jahre nach seinem vermeintlichen Absturz über der Ostsee hatte sie sich jede Trauer verboten. Nur so hatte sie weitermachen können. In seinem Sinne, wie sie dachte. Doch dann, als er in all dem Durcheinander plötzlich vor ihr stand, musste sie erkennen, dass er seinen Tod nur vorgetäuscht hatte.
Greta trat an die Brüstung ihres kleinen Balkons. Ihr Blick ging in die Weite. Lange stand sie so da und schüttelte den Kopf über sich. Was für ein lächerliches Leben sie gelebt hatte. Gelebtes Leben, gedachte Gedanken, geträumte Träume ... all das war nicht einfach zu zerreißen wie ein paar Blätter bemaltes Papier.
„Versagt!“ Greta schaute zu Boden, traute sich nicht, in die spiegelnde Scheibe neben sich zu sehen. Doch dann zwang sie sich dazu.
„Du hast versagt!“, schimpfte sie die alte Frau ihr gegenüber an. „Deine Geschichte geht nicht gut aus. Du warst nie so klug wie Li-Sun.“
Greta schaute auf ihr Spiegelbild, als erwarte sie eine Antwort. Der eiskalte Wind schlug ihr ins Gesicht, doch sie spürte ihn nicht. Sie schaute durch das Gitter des Balkons in die Tiefe. Dort, wo sich Ende des Krieges der Schutt gehäuft hatte, wo die anderen Kinder gespielt hatten, wo Bernikoff in den Untergrund verschwunden war, war heute ein gepflegter Innenhof mit Garten. Es war Gras über die Vergangenheit gewachsen. Ein einsamer Schneemann hielt auf dem Spielplatz Wache. Unterhalb ihres Balkons hatte man bald nach dem Krieg Garagen hinbetoniert.
Greta schob einen kleinen Hocker nah an die Brüstung und sah noch einmal über die Häuser hinweg. Ein Schwarm Vögel zog über den Himmel. Wie ein einziger Organismus bewegte er sich in wabernden Kreisen. Eigentlich ein schönes Bild, doch Greta dachte in diesem Moment an die Idee der Schwarmintelligenz, die so lange nun schon den Menschen als Rettung vorgegaukelt wurde. Was für ein Unfug. Die Masse hatte keine Intelligenz, darin war sich Greta sicher. Wie sonst konnten Kriege entstehen? Nein! Der Schwarm, die Masse musste geführt werden. Zum Guten. Sie hatte es versucht ...
Greta hatte keine Angst mehr. Es war vorbei. Eins der Leben eben, das mit der bitteren Erkenntnis endete, wie leicht man sich täuschen konnte; fast achtzig Jahre lang. Gut so, dass es nun ein Ende nahm. Sie stieg auf den Hocker, der nah am Geländer stand, und schloss die Augen. Sie musste sich jetzt nur noch leicht nach vorn beugen. Ganz leicht ...
Musik.
Woher kam auf einmal diese fröhliche Musik? Gerade jetzt. Greta öffnete die Augen. Horchte. Die Musik kam nicht aus irgendeiner Wohnung zum Hinterhof. Sie drehte sich um. Die Musik kam auch nicht aus ihrer Wohnung. Greta hielt sich die Ohren zu.
Die Musik wurde lauter.
In meinem Kopf, dachte Greta und stieg von dem Hocker. Die Musik ist in meinem Kopf.
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