ABATON: Im Bann der Freiheit (German Edition)
Runde und kehrte wieder zurück. Sogar dieses Scheißvieh hat mehr Macht über mich als ich selber, dachte Linus. Er wusste, dass die Fliege gerade über seine Stirn kletterte.
Fliege sein. Frei sein. Frei von diesem unnützen Körper. Stattdessen hielt ihn dieses wirklich beschissene Leben, das ihm nun bestimmt war, gefangen. Ein Leben, das ihn immer wieder zu bestrafen schien, gerade wenn es ihm gut ging. Wie vor anderthalb Jahren, gerade als er sein Glück kaum fassen konnte. Als er Judith begegnet war. Diesem herrlich verrückten Mädchen, an diesem verrückten Nachmittag mit Olsens verrücktem Hund Timber. Eine Ahnung von Liebe hatten die wenigen Stunden mit Judith in Linus erweckt. Und sie lehrten ihn den wundersamen Schmerz der Sehnsucht. Judith war gegangen und Linus saß wieder allein zu Hause und wartete auf die Rückkehr seiner Eltern aus Berlin. Ewig lange hielt er den Hörer des Telefons in der Hand und überlegte, ob er Judith anrufen solle. Ob das bescheuert wäre; oder cool. Er wollte einfach nur ihre Stimme hören, wollte sich bestätigen, dass es sie überhaupt gab. Dass es diesen herrlich-eklig-köstlichen Zungenkuss gegeben hatte. Und gerade als er ihre Nummer gewählt und mit klopfendem Herzen doch wieder aufgelegt hatte, klingelte das Telefon.
Hastig hatte Linus abgenommen, gehofft, dass Judith seine Nummer gesehen hatte und zurückrief. Aber es war das Büro eines Dr. Ono in Berlin; M.O.T. Nanos hieß der Konzern. Offenbar waren Linus’ Eltern nicht zu dem vereinbarten Termin erschienen, und eine angenehme Frauenstimme fragte Linus nun, ob er wisse, wo die Eltern steckten. Er konnte die Frage nicht beantworten. Doch sie beunruhigte ihn. Aber er erreichte nur die Mailbox seiner Mutter. In dieser Nacht machte Linus kein Auge zu. Er sah ohne Angst den Schatten zu, wie sie über die Wände seines Zimmers krochen, wenn draußen die Straßenbahn vorüberratterte. Seine Angst hatte ein anderes Ziel gefunden. Immer wieder wählte er die Nummer seiner Mutter. Er konnte sie nicht erreichen.
Am nächsten Morgen wandte er sich an die Polizei. Man ging der Sache nach, und das Ergebnis war für Linus so erschütternd, dass er es nicht akzeptieren konnte. Man sagte, seine Eltern müssten absichtlich verschwunden sein. Es gab keinerlei Hinweise auf einen Unfall oder ein Verbrechen. Die Eltern waren, nachdem sie mit der U-Bahn stecken geblieben waren, als einzige Passagiere wie vom Erdboden verschluckt. Die Mühlen der Bürokratie begannen zu mahlen und gaben Linus kurz darauf in die Hände von Rob und Helga „Flanders“, dem unerträglich verständnisvollen Pfarrerpaar in Köln.
Allein. Regungslos und mit einer ihn beherrschenden Fliege auf der Stirn hätte Linus jetzt alles darum gegeben, einer von Robs Predigten zuzuhören. Er versuchte sich zu erinnern, was Rob an den endlos langen Sonntagmorgen in seinen Predigten alles gesagt hatte. Er suchte nach Trost in seinen Worten. „Einsamkeit“ kam ihm in den Sinn. Die Osterpredigt, in der Rob von der Einsamkeit Jesu gesprochen hatte. Seine Einsamkeit vor seinem Tod. Sein Wissen um sein Ende.
Linus wollte nicht weinen. Es gelang ihm. Er wartete, dass die Fliege wieder in sein Blickfeld kam, und merkte, dass er sich darauf sogar freute. Für die Fliege war er kein gelähmtes Stück Fleisch, der Fliege war egal, ob er „locked-in“ war oder nicht. Linus hatte auf einmal die verrückte Idee, sich mit der Fliege zusammenzuschließen. So wie er es mit Edda und Simon getan hatte. Vielleicht wäre er so wieder lebendig, könnte mit den Augen der Fliege die Welt sehen. Könnte an jeden Ort. Durch jedes Schlupfloch. Linus fand die Idee faszinierend. Er hörte nicht auf die Stimme in seinem Kopf, die das für absolut dämlich hielt und verbittert bemerkte, dass er als Fliege auch Scheiße fressen werde. Linus wischte diese Gedanken weg. Er wollte ja nur die Fliege als Freund, als Gefährten, mit dessen Augen, mit dessen Körper er das Leben wieder erleben könnte.
Linus wusste, die Fliege saß auf seiner Stirn, und er begann sich auf sie zu konzentrieren.
[3125]
In der Mitte des Raums hatte jemand zwischen vier Rechnern einen freien Platz geschaffen, wo zwei Stühle standen, auf denen Edda und Simon saßen. Auf ihren Köpfen die Elektrodenhauben, die sie von Olsen und Linus kannten. Über Kabel waren die Hauben mit zwei Computern verbunden. Edda und Simon schlossen die Augen, so wie sie es zur Befreiung von Marie getan hatten. Sofort waren sie miteinander
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