ABATON: Im Bann der Freiheit (German Edition)
Verwundert konzentrierte sie sich darauf. Es war Musik, die sie kannte, aber nie gemocht hatte. Swing-Musik. Jetzt aber machte sie sie fröhlich. Und überwältigt von der Wirkung der Musik, spürte Greta, wie sich ihre Beine zu bewegen begannen. Im Rhythmus des Swing. Es waren nur kleine Schritte, aber sie passten perfekt. Greta konnte es nicht fassen. Sie tanzte. Tatsächlich, sie tanzte. Mit klappernden Beinen, doch sie tanzte; fast wie Li-Sun ... Selig legte sie den Kopf in den Nacken und breitete die Arme aus.
Die junge Nachbarin von gegenüber, die eben noch die Polizei rufen wollte, als sie sah, dass Greta so nah an die Brüstung getreten war, legte das Handy wieder beiseite und sah der Seligkeit der alten Frau von gegenüber zu. Sie musste lächeln. Doch sie war nicht die Einzige, die die Szene verfolgt hatte.
Im Schutz der Einfahrt stand Greg. Er hatte für einen Moment gedacht, dass Greta seinen Job selbst erledigen würde. Jetzt schien es, als müsste er doch handeln.
„Ich tanze!“, rief Greta erschöpft in den kalten Wintertag und schämte sich nicht ihrer Tränen. Sie musste sich an der Brüstung festhalten. Woher diese überwältigende Freude? Nur wenige Sekunden nach ihrer Entscheidung zu sterben? Greta zwang sich zur Ruhe und langsam drang die Vernunft wieder in den Vordergrund ihres Denkens. Schnell war ihr klar, dass das Experiment doch gelungen sein musste. Die Musik, der Tanz ... das alles war Teil von Maries Leben gewesen. Gretas Herz pochte vor Freude. Sie war noch lange nicht am Ende!
Nun erst begann der spannende Teil ihrer Forschung. Und sie selber war ein unverzichtbarer Teil.
Greta verließ den Balkon. Sie musste die Speicherfestplatte als Back-up für die künftige Forschung in Sicherheit bringen, als das Telefon klingelte. Greta meldete sich.
„William ...?“, fragte sie ungläubig. Sie hörte zu, was Bixby zu sagen hatte, und legte dann langsam auf. Sie empfand Freude. Wie sich doch plötzlich alles fügte. William würde gleich da sein. Er musste dringend mit ihr reden, hatte er gesagt. Wegen ihrer Forschung an der Kritischen Masse. Greta lachte. Es ging also doch nicht ohne sie. Nein. Sie wollte nicht sterben.
Gleich würde Greta ihm sagen, dass es ihr leidtat, was sie gesagt, was sie getan hatte. Ließe sie alle Wünsche zu, dann wüsste sie, welchen sie jetzt erwählen würde. Sie wollte, dass alles so war wie an dem regnerischen Novembertag vor nun fast sechzig Jahren. Als sie als junge Studentin der Neurologie, Psychologie und Philosophie den schneidigen Amerikaner William Bixby in einem muffigen Antiquariat nahe der Humboldt-Universität kennengelernt hatte, als sie beide zufällig nach dem schmalen Band » Die Bernikoff-Konstante « gegriffen hatten. Bis in den Abend erzählte Greta Bixby daraufhin alles, was sie über Carl Bernikoff wusste. Wie sie ihn kennengelernt, wie er sie beschützt hatte und wie er ihr die Augen für die unendlichen Möglichkeiten der Wissenschaften geöffnet hatte. So beseelt war sie davon, einen interessierten Zuhörer gefunden zu haben, dass ihr erst viel später aufgefallen war, dass Bixby sie regelrecht ausgehorcht hatte. In ihrem Ärger über sich selbst begann Greta, Bixby nachzuspionieren, und entdeckte, dass er offensichtlich für die CIA arbeitete. Bei ihrem nächsten Treffen wollte Greta den Spieß umdrehen. Doch stattdessen küsste Bixby sie. Greta war verwirrt, wusste die Zuneigung nicht einzuordnen in ihr Lebenssystem, in dem die Verwirrungen der Liebe bisher keinen Platz gefunden hatten. Doch ihre Ratio behielt die Oberhand und schließlich konfrontierte sie Bixby mit ihrem Wissen. Er hatte gar nicht erst versucht zu lügen. Er bekannte, dass er wie viele andere junge Mitarbeiter der CIA die Aufgabe gehabt hatte, die unendlich zahlreichen Forschungsunterlagen aus Nazi-Deutschland nach für die USA brauchbarem Material zu sichten. Irgendwann war Bixby auf Bernikoff gestoßen. Seine Schriften, seine Gedanken, seine unkonventionellen Ideen hatten ihn sofort fasziniert. Deshalb hatte er sich nach Deutschland, nach Berlin versetzen lassen. Bixby wollte alles über diesen genialen Denker wissen. Deshalb hatte er Greta ausgehorcht, als er hörte, dass sie Bernikoff persönlich gekannt hatte.
Greta imponierte seine Ehrlichkeit. Sie konnte nicht fassen, dass vor ihr jemand saß, der Zugang zu allen verschwundenen Schriften von Carl Bernikoff hatte. Sie musste diese Schriften lesen; sie bat, bettelte darum. Als Bixby sich um eine Zusage
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