ABATON: Im Bann der Freiheit (German Edition)
Thorbens Mutter konnte nicht verhindern, dass ihr Sohn ihr imponierte. Er war auf dem Weg, erwachsen zu werden. Auf einem guten Weg.
Als er geendet hatte, schwieg sie eine Weile.
„Hast du Hunger?“, fragte sie schließlich auf dem Rückzug in das vertraute, familiäre Fahrwasser, in dem sie, im Gegensatz zu dem neuen Mutter-Sohn-Verhältnis, blind manövrieren konnte.
„Hast du mir zugehört?“, fragte Thorben ungläubig.
Seine Mutter atmete tief durch, nickte dann lange vor sich hin, um Zeit für eine Antwort zu gewinnen.
„Ja“, sagte sie schließlich. „Ja, ich hab dir zugehört. Du hast ein Leben, von dem ich nichts weiß.“ Sie lächelte ihn an und er konnte die Tränen in ihren Augen erkennen.
„Ist das so schlimm?“, fragte Thorben.
„Nein“, sagte sie und schüttelte traurig den Kopf. „Nein. Ich frag mich nur, warum das so ist. Warum ich dein Vertrauen nicht mehr habe.“
Sie schaute ihn an, und das Einzige, was Thorben tun konnte, war seine Mutter in den Arm zu nehmen. Da weinte sie erst recht los. Wie klein sie ist, dachte Thorben. Und wie anders als Birte sie sich anfühlt. Thorben kam sich erwachsen vor, als er der Mutter tröstend auf den runden, weichen Rücken klopfte. Der Geruch ihrer Löckchen erinnerte ihn an früher, und es war gut, dass sich das nicht geändert hatte. Irgendwie kam Thorben das verlässlich und stärkend vor. Der Geruch, seine Mutter, die Löckchen ... all das würde immer so bleiben. Gut so. Müsste so sein. Um selber durchstarten zu können. Wirklich gut so.
Thorbens Mutter war nicht im Mindesten klar gewesen, dass sie sich so weit auf illegales Handeln würde einlassen müssen, als sie Thorben schließlich versprach, Linus zu helfen. Nachdem sie zur Klinik zurückgekehrt, den Krankenbericht über Linus gelesen und kopiert und heimlich die notwendige Medikation eingepackt hatte, war sie mit ihrem kleinen Wagen zu der Adresse gefahren, die Thorben ihr genannt hatte. Die Wohnung, in der sich der Patient nun befand, jagte Thorbens Mutter einen gehörigen Schreck ein. Durch einen Raum voller technischem Krimskrams wurde sie von einem alten Mann, der sich Bixby nannte, in einen abgedunkelten Raum geführt. Dort wartete ihr Sohn zusammen mit einem grauslichen Kerl, der nur noch einen halben Kopf besaß. Hinter beiden stand ein altes Sofa, das als Krankenbett hergerichtet worden war. So wie es sich Laien eben vorstellen.
An dem resoluten Kopfschütteln seiner Mutter hatte Thorben erkannt, dass sie nach der ersten Verunsicherung nun in ihrem Element war. Sie hatte den Mantel ausgezogen, die Ärmel über die kurzen, fleischigen Unterarme hochgeschoben und gleich mal Hand angelegt, um ein einigermaßen brauchbares Krankenlager zu bauen. Stumm waren ihr Thorben und Olsen zur Hand gegangen und hatten ohne Widerspruch alles getan, was Thorbens Mutter anordnete.
Nun hatte sie Linus versorgt, hatte die nährende Infusion angeschlossen und Linus schlief. Thorbens Mutter hatte Olsen ausführlich eingewiesen, was er leisten konnte, um es Linus in seiner Situation angenehmer zu machen. Jetzt wollte sie die Wohnung wieder verlassen.
„Warten Sie!“ Olsen hielt sie am Wohnungseingang auf. Er kam zu ihr und gab ihr einen Zettel. „Das sind Kliniken in Amsterdam und Genf, an denen Spezialisten für das Locked-in-Syndrom arbeiten. Wären Sie so nett, herauszufinden, welche die bessere ist?“
Thorbens Mutter sah ihn an, nickte kurz und nahm den Zettel. Gleichzeitig holte Olsen drei Hunderter aus der Tasche.
„Für Ihre Hilfe“, sagte er und gab das Geld Thorbens verdutzter Mutter.
„Nein. Ich bitte Sie ... Es war für einen Freund von meinem Sohn“, sagte sie und lehnte das Geld mit einer entschiedenen Geste ab.
„Schon“, sagte Olsen. „Aber Sie haben Unkosten und Sie werden sicher noch ein paarmal hier gebraucht.“ Er lächelte sie an und Thorbens Mutter sah fasziniert zu, wie dieser entstellte Mann ein menschliches Antlitz bekam. „Tun Sie mir den Gefallen“, sagte Olsen. „Und wenn Sie das Geld nicht für sich brauchen ... dann legen Sie es für Thorbens Ausbildung auf die Seite.“ Er schaute zu Thorben und nickte ihm zu. „Er hat sich wirklich tapfer geschlagen.“
Thorbens Mutter sah stolz zu ihrem Sohn, nahm die drei Scheine, schnappte sich Thorben und sie verschwanden.
Olsen ging in die Wohnung zu Bixby. Der alte Mann saß über irgendwelchen Unterlagen und empfing ihn mit besorgtem Blick.
„Wie geht es Linus?“, fragte er.
„Stabil“,
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