Abaton
ihrem Ende entgegentaumelten, schien allerdings dagegen zu sprechen. Man musste die Zeichen zu deuten wissen, dachte Simon. Im Augenblick fiel ihm das schwer. Im Augenblick ging es um Klarheit. Also fragte Simon Bobo ohne Umschweife, ob er seinen Vater kenne.
Bobo nickte. Langsam und bedächtig. Als müsste er erst das Schwungrad ins Laufen bringen, das sein Gehirn antrieb. Schließlich erklärte er, dass Simons Vater nach Berlin „verschubt“ worden sei.
„Vor morgen wird er da nicht sein.“
„Die Fahrt dauert doch höchstens einen Tag“, wandte Simon ein.
„Die halten überall auf der Strecke und nehmen noch ein paar Brüder mit“, antwortete Bobo.
So ergab es Sinn. Bobo deutete auf das Gefängnis hinter sich.
„Da bist du nicht Herr deiner Zeit. Obwohl du mehr davon hast als von allem anderen. Und das ist für die meisten die größte Qual.“
Simon nickte und zog die Augenbrauen ein Stück nach oben. Was hätte er sonst tun sollen?
Der Linienbus brachte Simon und Bobo zur S-Bahn. Sie fuhren zum Hauptbahnhof und unterhielten sich. Simon erfuhr, dass Bobo mehr Zeit im Knast verbracht hatte als in Freiheit. Sowohl sein Großvater als auch sein Vater hatten mit dem Gesetz auf Kriegsfuß gestanden.
„Liegt in der Familie“, sagte Bobo lachend. Und wurde gleich wieder ernst. Sein Großvater war erwischt worden, als er „entartete Kunst“ aus einem Keller klauen wollte. Er war im KZ Sachsenhausen hingerichtet worden und Bobo war stolz darauf. So als hätte der Großvater im Widerstand gegen Hitler gekämpft. Der Riese erzählte, dass das Gold von den Einbrüchen des Großvaters nie gefunden worden sei.
„Es ist noch immer irgendwo in Berlin versteckt“, flüsterte er Simon zu. Bobo war überzeugt, dass sein Leben einen anderen Verlauf genommen hätte, wenn er nicht in so ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen wäre. Er hatte kaum Schulbildung genossen und war mit »Knöchelbrot« großgezogen worden. Simon schaute ihn fragend an.
„’n paar aufs Maul, anstatt zu essen“, sagte Bobo und hielt Simon zur Illustration seine riesige Faust vor die Nase.
Mit acht hatte er begonnen, seinem Vater und seinem Onkel bei Ein-
brüchen zu helfen und durch Öffnungen zu kriechen, durch die kein Erwachsener passte.
„Die haben gedacht, wir sind Liliputaner!“ Bei der Erinnerung, wie die Polizei im Dunkeln getappt war, lachte Bobo schallend. Zum Beweis zeigte er Simon einen Zeitungsausschnitt, den er in der Seite seiner Reisetasche in einer Klarsichthülle aufbewahrte. Als Bobo zu groß geworden war, war es mit seiner Sonderstellung in der Familie vorbei gewesen. Bobos kleiner Bruder nahm seinen Platz ein und Bobo hielt sich mit Ladendiebstählen und Einbrüchen selbst über Wasser. Aber diese Sparte lag Bobo nicht.
„Man braucht ’ne Weile, bis man raus hat, wo einen das Leben hinhaben will. Lass dir das gesagt sein“, sagte Bobo gewichtig.
Simon wusste genau, was Bobo damit meinte. Aber wusste das Leben überhaupt so genau, wo man hin sollte? Bobo schaute ihn stumm an.
„Gute Frage“, sagte Bobo und sprach sie auf ein Diktafon, das er offensichtlich immer bei sich trug.
„Mein Gedächtnis“, sagte Bobo. Er spulte zurück, drückte auf »Play« und lauschte seiner Stimme.
„19. August 2010. Warum hat Tarzan keinen Bart?“ Bobo schaltete aus und sah Simon stolz an.
„Warum?“
Bobo zuckte die Schultern. „Fragen sind wichtiger als Antworten. Lass dir das gesagt sein“, sagte Bobo und verstummte.
Simon konnte sich einfach nicht entscheiden, ob er dem Mann vertrauen sollte oder nicht. „Kannten Sie meinen Vater gut?“
Bobo wiegte den Kopf. „Dein Alter war einer von denen, die man nie gesehen hat. Die meiste Zeit hat er im Bunker gesessen. Weil er gefährlich war!“
„Unsinn, mein Vater ist nicht gefährlich!“
„Für die, die ihn hinter Gitter gebracht haben, schon. Er ist kein normaler Krimineller wie ich.“ Vielsagend sah Bobo Simon an. „Als ich ihn zuletzt gesehen habe, haben sie ihm eine Betonspritze verpasst. Danach hat er kaum noch mit den anderen geredet. Da kannst du nicht mal mehr die Augen zumachen, bevor du weg bist. So ssssst geht das!“ Er hielt inne, nahm sein Diktafon, drückte auf Aufnahme.
„Warum machen alle fliegenden Insekten ein Geräusch, das der Buchstabe »s« wiedergeben kann?“
Er summte in diversen Tonlagen und schaltete das kleine Tonband wieder aus. Leise weitersummend schloss Bobo die Augen, als gebe er sich einer schönen Erinnerung hin.
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