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Abaton

Abaton

Titel: Abaton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Jeltsch
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Dabei musste es also um dieses Projekt gegangen sein. Linus klickte den Ordner an. Auf der ersten Seite prangte ganz oben ein Zitat. »Ob ich nicht unter dieser Schaar die Urpflanze entdecken könnte? Eine solche muß es denn doch geben! Woran würde ich sonst erkennen, daß dieses oder jenes Gebilde eine Pflanze sei, wenn sie nicht alle nach einem Muster gebildet wären?« Ein Zitat von Goethe, hatte Linus’ Mutter vermerkt. Linus runzelte die Stirn. Eine Urpflanze ...? Er scrollte zum unteren Ende der Seite. Da waren zwei ähnliche Metallplatten abgebildet, wie sie Linus auch in dem Karton gefunden hatte. Die Platten auf den Fotos wirkten professioneller. Das Ding im Karton war wohl so etwas wie ein Prototyp. Neben den Fotos standen eine Menge Formeln und Zeichen für Stromstärke und Widerstände. Schaltkreise waren aufgezeichnet. Linus war das alles schleierhaft. Er würde alles genau durchlesen müssen, um sich einen Reim darauf zu machen.
    [ 1248 ]
    Da saßen sich die beiden Glatzköpfe gegenüber. Der eine schmal wie ein Hemd und der andere breit wie eine Kinoleinwand.
    Während Simon müde wurde und immer noch nicht wusste, ob er Bobo in die Geschichte mit seinem Vater hineinziehen sollte, wanderten Bobos Blicke unermüdlich durch den Großraumwagen. Verfolgten, ob jemand ein Handy ablegte, seinen Platz verließ, einen Koffer abstellte oder eine ausgelesene Zeitung in die Ablage zurücklegte. Nichts schien Bobo zu entgehen. In jeder noch so banalen Handlung oder Situation schien er eine Möglichkeit zu sehen, mit Menschen ins Gespräch zu kommen und sie auszuloten, und bald hatte er ein Netz aus Kontakten und Freundlichkeiten um sich und Simon gelegt.
    Als der Schaffner ihn grüßte wie einen alten Bekannten und sich danach erkundigte, weshalb er Bobo so lange nicht mehr gesehen habe, zog dieser ein betrübtes Gesicht. Ohne einen Augenblick zu überlegen, gab er sich als Simons Onkel aus, der seinen Neffen in die Charité begleite. Zu einer schwierigen und vielleicht tödlichen Operation, bei der ein Tumor – groß wie ein Hühnerei – hinter Simons Stirn entfernt werden sollte. Man würde das Gewächs mit feinen Messern in Streifen schneiden und Stück für Stück aus Simons Nase ziehen. Dabei spielte er mit seinen Wurstfingern die filigrane Operation vor den Zuhörern so gekonnt vor, dass einige sogar applaudierten, als Bobo den imaginären Tumor zwischen den Fingern hielt.
    Bobo beschrieb aber nicht nur die Simon bevorstehende Operation in allen grausamen Einzelheiten, sondern erfand auch einen jahrelangen Leidensweg mit unzähligen Höhen und Tiefen, Hoffnungen und Enttäuschungen, sodass sich nach und nach immer mehr Leute um Simon und Bobo sammelten, die an Bobos tapfer lächelnden Lippen hingen.
    Wie aus dem Nichts materialisierten sich dazu Speisen und Getränke und Bobo und Simon fingen an zu tafeln, während Bobo weiter seine Geschichten spann.
    Zu seiner Verwunderung merkte Simon, dass er selbst zu glauben begann, was Bobo so überzeugend vortrug. Doch als Bobo bei einer besonders rührseligen Stelle angekommen war, in der er berichtete, wie Simon in seiner Kindheit bei einem Schiffsuntergang auf einem norwegischen Fjord zum Waisen geworden war, musste Simon plötzlich laut loslachen. Verwundert starrten ihn die ergriffenen Fahrgäste an. Bobo warf ihm einen besorgten Blick zu.
    „Der kleine Kerl verkraftet kaum mehr, was er alles an Leid schon ertragen musste“, sagte Bobo fachkundig und feierlich und brachte es tatsächlich fertig, ein paar Tränen aus seinen winzigen Augen quellen zu lassen, um sie dann mit einer eilig gereichten Serviette zu trocknen.
    Simon spürte, wie eine Welle menschlicher Sympathie durch den Großraumwagen wogte und ihn und Bobo förmlich umspülte. Bobo war ein Zauberer. Einer, der Menschen vereinte und zu ergreifenden Gefühlen und Gesten bewegte und dem dazu jedes Mittel recht schien.
    Konnte man ihm das vorwerfen? Das war offenbar sein natürliches Talent. Das eines Hochstaplers, eines Betrügers und Täuschers, der sich in Menschen einfühlen konnte. Der verstand, welch wunderliche Wendungen das Leben bisweilen nahm.
    Simon konnte nicht anders, als zu bewundern, mit welcher Selbstverständlichkeit der Riese die Beileidsbekundungen anderer Menschen entgegennahm und ihnen durch seine erfundenen Geschichten Trost spendete. Man bedachte ihn mit Spenden und Simon selbst ließ sich von einem Arzt die Adresse einer an einem See gelegenen Privatklinik geben, der ihm

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