Abaton
anderen Sorge gewichen. Es klang in ihr nach, was die Stimme ihr erklärt hatte, die sie hatte anrufen müssen. „Wenn diesem Jungen etwas geschieht, bedroht das die gesamte Operation.“ Die Campleiterin wusste, welche Last auf ihren Schultern lag. Die Last von so vielen Jahren der Forschung und des Experimentierens. Hunderten Jahren, wenn man so wollte. Tausenden vielleicht. Wer wusste das genau?
Edda hatte das Gebäude erreicht. Sie fand einen Aufgang. Widerwärtige Graffiti prangten an den Wänden. Es roch nach Pisse. Der Boden und die Treppe waren übersät von benutzten Kondomen.
Edda stieg Stufe um Stufe hinauf und wunderte sich, warum ihre Gedanken nicht rasten. Warum hatte sie keine Angst? Warum war sie so klar? Obwohl sie Thorbens Drohung doch ernst nehmen musste. Etwas an Thorbens Stimme, in seiner Haltung ließ Edda keine Sekunde an seiner Entschlossenheit zweifeln. Er war bereit zu springen, das fühlte sie mit absoluter Sicherheit. Und doch war sie ganz ruhig. Sie huschte weiter das Treppenhaus hinauf, vorbei an einem Graffito. Eine verschnörkelte Swastika in einem Feuerkreis ...
Dann sah sie ihn. Thorben stand nur wenig Schritte vom Abgrund entfernt. Edda näherte sich vorsichtig. Und er ließ es stumm zu.
„Es tut mir leid ...“, begann Edda, wollte sich entschuldigen, dass sie ihn zurückgewiesen hatte.
Doch er unterbrach sie. „Nein. Nein. Mir tut es leid. Es tut mir so leid, Edda ...“ Er lächelte traurig. Er hatte Edda vom ersten Moment ihrer Begegnung an geliebt. „Ich konnte nichts dagegen tun. Mein Hirn spulte von da an den Film unserer Liebe ab. Unsere gemeinsame Zeit an der Uni. Unsere Hochzeit in Weiß. Die Kutsche, die Big Band, die Torte. Die Flitterwochen auf Mallorca. Dann unsere Ehe. Wie super du deinen Job und den Haushalt schmeißt. Wie ich an der Uni immer mehr Karriere mache. Dann unsere drei Kinder ...“
„Thorben! Bitte ...“, wollte Edda unterbrechen. Vergeblich. Er war noch längst nicht am Ende mit seiner nervenden Litanei. „Paul und Peter und Erika ... drei Kinder, ja. Wie du mehr für den Namen Josephine bist, aber dann meiner Mutter zuliebe bei Erika doch zustimmst. Dann die Familienurlaube an der Ostsee. So viel schöner als die Ferien mit meiner Mutter …“
Er hatte das alles so schnell runtergerattert, dass er jetzt innehalten musste, um Luft zu schnappen. Edda nutzte den Moment.
„Thorben, echt ... Du machst dir da ...“
„Ja. Ich mache einen Fehler. Es tut mir so leid. Bitte. Das musst du mir glauben. Aber meine neue Sekretärin … ich bin dann nämlich Dekan an der Uni ... sie ist so ... so ... jung. Und du hast diese schreckliche Krankheit ... Diese ewigen Aufenthalte in der Psychiatrie ...“
„Was?“ Edda unterbrach ihn. „Was redest du da?“
„Ich weiß nicht, Edda. Das lief einfach ab ... in mir. Wie ’n Computerspiel. Ich konnt nichts dagegen machen.“
„Wieso Psychiatrie?“ Edda war seine Vision unheimlich. Wie konnte Thorben so etwas in den Sinn kommen? Etwas, wovor Edda tatsächlich große Angst hatte. „Glaubst du, ich bin verrückt?“
„Nein. Nein ... ich weiß nicht. Es war einfach da ... in meinem Kopf. Ja, glaub ich. Unser gesamtes Leben. Bis zu diesem Moment. Als ich dachte, ich müsste mir noch mal beweisen, was für ein toller Typ ich bin. Ich hab dich betrogen, Edda. Es tut mir so leid. Ich hab alles ... hab alles kaputt gemacht ...“
Edda stand da. Fassungslos. Das musste sie erst mal verdauen. Das wäre also ihr Leben mit Thorben. Und sie ertappte sich dabei, wie sie einen Moment lang dachte, so ein Scheißkerl sollte doch lieber springen.
„Hab dich nicht verdient“, sagte Thorben und wartete. Auf ein erlösendes Wort von Edda. Aber sie schwieg. Und er trat auf den Rand des Abgrunds zu.
Unten am Fuß des Berges zuckten alle zusammen. Sie hatten gebannt zugeschaut, auch wenn sie nichts von der Unterhaltung zwischen Thorben und Edda mitbekommen hatten. Doch allein die ausladenden, ungelenken Gebärden von Thorben waren faszinierend anzuschauen. Sie konnten jeden Moment in eine unkontrollierte Bewegung ausarten wie bei einem Brummkreisel und dann ...
„Warte“, sagte Edda. „Ich verzeihe dir.“
Thorben war im Begriff, seinen letzten Schritt zu machen, und hielt inne. Drehte sich zu Edda um, sah sie an.
„Ist das wahr?“
„Es gibt eine Lösung, Thorben.“
„Ja ...?“ Er schaute ungläubig, bereit, gleich übers ganze Gesicht zu strahlen.
„Wir werden nie zusammenkommen, Thorben. Das
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