Abaton
hatte Linus Edda und Simon gedrängt, doch noch einmal mit ihm in das Berliner U-Bahn-System hinunterzusteigen. Er war fassungslos, als ihm klar wurde, dass Edda und Simon ihn für einen Spinner hielten. Dass sie meinten, all das, was sie erlebt hatten, die scheinbare Gefahr, die Bedrohung und die vermeintliche Verschwörung existierten nur in seinem Kopf. Er hatte fast geweint vor Wut und war auf Simon losgegangen. Da hatte der ruhige Simon irgendwann zugeschlagen. Einmal. Butz! Linus war umgefallen. Und obwohl Edda Gewalt verabscheute, war sie stolz auf Simon. Weil er endlich mal gehandelt hatte. Trotzdem hatte sich Edda danach gegen Simon gewandt. Weil sie auch Linus verstand, der sich so schrecklich alleingelassen fühlte.
Zum Schluss waren alle drei furchtbar zerstritten.
Edda legte den Kopf an die Scheibe und spürte das leise Zittern des fahrenden Zuges.
Auf dem S-Bahnsteig, als sie glaubten, verfolgt zu werden, waren ihr die beiden Jungs wie echte Schicksalsgefährten erschienen. Verbündete, mit denen sie durch dick und dünn gehen konnte. Aber als sich die brutalen Verfolger als Angestellte des Camps entpuppt hatten, war die Illusion von Abenteuer und Zusammenhalt mit einem Schlag verflogen. Plötzlich waren sie wieder ganz normale Teenager, die ein letztes Mal »Herr der Ringe« spielten.
Marco war schlau genug gewesen, nicht ins Camp zu fahren. Er war eben cool. Linus und Simon waren es nicht. Bestimmt nicht. Edda spürte, wie sich ihre Brust zusammenzog. Zum hundertsten Mal schaute sie auf ihr Handy. Marco meldete sich nicht, obwohl er wusste, dass sie bald zurück war. Am liebsten hätte Edda ihn angerufen. Aber sie wollte nicht bedürftig erscheinen.
„Man muss seine wahren Gefühle verbergen“, hatte Linda, Eddas beste Freundin, gesagt. „Gefühle haben den süßen Duft der Verzweiflung. Weil die Leute falsche Schlüsse aus der Wahrheit ziehen …“ Das hatte Linda sicher in einem ihrer kitschigen Liebesromane gelesen. Kitschige Phrasen, die sie für große Lebensweisheiten hielt. Ach, die arme Linda ...
Edda überlegte, ob sie Linda diese Sprüche tatsächlich abgenommen hatte. Das konnte sie sich jetzt nicht mehr vorstellen. Wenn man nicht die Wahrheit sagen durfte, durfte man auch keine ehrliche Antwort erwarten. Dann war alles eine Lüge. Die ganze Welt. War die Welt eine einzige große Lüge? Der Gedanke bereitete Edda Kopfschmerzen.
Sie durfte nicht so viel denken!
Sie presste die Stirn an die kühle Scheibe.
Wieso war Marco nicht im Camp gewesen?
Hatte sie die ganze Scheiße umsonst mitgemacht?
Nein, das konnte nicht sein. Da war auf jeden Fall dieses unglaublich vitale Gefühl, das sie gehabt hatte, als sie auf der Bühne stand. Als redete da eine ihr unbekannte Edda aus ihr heraus. Und als sie unten in den Eingeweiden Berlins auf der Flucht gewesen waren. Da hatte sich Edda gefühlt, als wäre sie aus einer Hülle gekrochen. Einer Hülle, die einen Teil von ihr verbarg, vor dem sie Angst hatte, aber nach dem sie sich sehr sehnte. Manchmal fürchtete sie, zwischen Genie und Wahnsinn zu pendeln. Wobei sie dem Genie bislang noch nicht trauen konnte. Und der Wahnsinn? Der war da. Ganz nah. Wie bei ihrer Mutter.
Seit dem Camp spürte Edda, dass sich dieser andere Teil, der dem Wahnsinn etwas entgegenhalten konnte, in ihrem Inneren zu regen begonnen hatte. Und sie war bereit, sich mit ihm zu verbünden. Andernfalls lief sie Gefahr, sich wieder in den Kokon zurückzuziehen, in dem sie sich versteckte. Vor sich und vor den Menschen. Vor ihrer eigenen Wahrheit.
Der Gedanke, sich nicht mehr zu verstecken, hatte seit dem Camp etwas Verlockendes. Edda wusste nicht, ob sie sich dem Locken ergeben sollte.
Als der Zug durch eine Unterführung raste, sah sie für einen kurzen Augenblick ihr Spiegelbild in der Scheibe und merkte, dass sie lächelte. Dass sie die ganze Zeit gelächelt hatte.
[ 1202 ]
Linus hockte in der letzten Sitzreihe des Familienvans und betrachtete diese schrecklich glückliche Familie vor sich. Man sang, spielte Autonummern-Raten und war nett zueinander. Unerträglich nett. Kein böses Wort, keine Geschwindigkeitsübertretung, kein Quengeln von Martin oder Katharina, dass sie Durst hätten oder pinkeln müssten. Sie hielten sich mit ihren Bedürfnissen strikt an den Zeitplan, den sein Pflegevater – »Rob«, wie er genannt werden wollte – wie vor jeder Reise aufgestellt hatte. Dazu gehörte unter anderem: keine Handys im Auto. Wegen der Strahlung.
„Es gibt
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