Abaton
Friedhof und im Zoo. Rob habe ihn gewähren lassen, weil er glaubte, es sei wichtig für Linus, sagte er. Er habe immer ein Auge auf ihn gehabt. Es hätte ihm nichts passieren können. Aber nun war das Trauerjahr vorüber.
„Bisher hast du deine Trauer nicht zugelassen, Linus. Aber spürst du nicht, wie viel Kraft dich das kostet?“ Robs Lächeln zeigte, wie ehrlich er mit Linus mitfühlte. „Glaub mir, es wird dir guttun, um deine Eltern zu trauern. Zu weinen. Zu schreien. Um dich zu schlagen ... Gib deine Beherrschung auf, mein Freund. Du darfst das ... Trauere und gesunde.“
Linus gelang es nicht mehr, auf Durchzug zu stellen. Zu sehr berührte ihn dieses Thema. Zu sehr berührten ihn Robs Worte. Er spürte, dass Rob recht hatte, aber er konnte ihm doch nicht recht geben. Unmöglich. Niemals!
„Auf was soll denn meine Zukunft aufbauen, wenn ich meine Vergangenheit nicht kenne?“, fragte Linus. Da passierte etwas, das er nicht erwartet hatte. Rob schwieg. Weil er darauf keine Antwort wusste. Er schaute Linus an und Linus spürte, wie unangenehm es Rob war, mit einem Mal so sprachlos zu sein. Linus beunruhigte sein Schweigen. Er hatte diesen Satz doch nur gesagt, um einen logischen Widerspruch zu hören. Ein Argument, das seine Behauptung aushebelte.
„Komm mit in den Gottesdienst“, war alles, was Rob einfiel.
[ 1208 ]
Linus lag auf seinem Bett, als die Glocken läuteten und zum Spätgottesdienst in die Kirche gegenüber riefen. Er wollte sich nichts von einem Gott erzählen lassen, der lieber seinen einzigen Sohn auf eine todsichere Mission schickte, anstatt selbst zu gehen. Was war das für ein Vater?
Linus dachte unwillkürlich an sich. An seine Situation. An seine Mission. War diese auch tödlich? Er erinnerte sich an die Ratlosigkeit in der Stimme seines Vaters, als sie zuletzt telefonierten. Was hatte er da gerade entdeckt? Was konnte sich sein Vater in der U-Bahn in Berlin nicht erklären? Waren es die Bilder der Sonnenräder? Linus klappte wieder seinen Laptop auf. Er wählte eines seiner Fotos aus dem Untergrund aus und betrachtete es noch mal genau. Aber ihm fiel nichts Besonderes daran auf. Dieses Bild konnte nicht die Ursache für die Ratlosigkeit seines Vaters sein. Er klickte weiter durch die Bilder und landete wie zufällig bei Edda und musste lächeln. Moment! Er klickte zurück. Da war das Foto von den versteinerten Pflanzen, das er im Museum gemacht hatte. Linus separierte es auf dem Bildschirm. Dann klickte er weiter durch die Fotos und plötzlich sah er es. Das war es! Warum war ihm das bisher nie aufgefallen? Auf den Bildern mit den Sonnenrädern waren diese ausgestorbenen Pflanzen ebenfalls zu sehen. Linus hatte der Insel unter dem Sonnenrad nie besondere Aufmerksamkeit geschenkt, aber nun fiel es ihm auf. Darauf wuchsen die gleichen Pflanzen, die Linus auf dem Museumsprospekt abfotografiert hatte. Das war es, was seinen Vater so ratlos gemacht hatte! Schließlich waren diese Pflanzen seine Forschungsprojekte. Linus’ Herz klopfte ihm bis zum Hals. Das war die Spur, nach der er gesucht hatte. Er musste mehr erfahren über die Forschung seiner Eltern. Er musste in die alte Wohnung zurück, in das Gewächshaus im Hinterhof. Vielleicht gab es da noch Unterlagen. Vielleicht würde sich damit alles aufklären, würde er seine Eltern auf diese Weise finden. Vielleicht ... Seine Gedanken purzelten durcheinander wie betrunkene Kobolde. Ruhe! Denk logisch, Linus.
Musik drang von der Kirche herüber. Ein Chor sang. Und die Melodie passte plötzlich so unfassbar gut zu Linus’ Hochgefühl. Er öffnete das Fenster. Diese Musik schien seiner neu erwachten Hoffnung Ausdruck zu verleihen und ein seltsam leichtes Glücksgefühl stieg in ihm auf. In diesem Moment zweifelte Linus nicht mehr daran, auf dem richtigen Weg zu sein. Wo immer dieser Weg ihn auch hinführen würde, er würde ihm folgen. Und diese Musik ...
Erst auf dem Weg zur Kirche bemerkte Linus, dass er im Begriff war, etwas zu tun, was ihm früher nie in den Sinn gekommen wäre. Er ging tatsächlich in Robs Kirche.
Linus schob die schwere Metalltür auf und schlüpfte in das sechseckige Gebäude. Der Raum war erfüllt von den Stimmen des Chors. Nicht einmal die Hälfte der Bänke war um diese Uhrzeit besetzt. Die meisten der Besucher waren sicher über 70, schätzte Linus. Er huschte die Stufen zur Empore hinauf. Von hier kamen die Stimmen. Hier befand sich die Orgel. Linus blieb hinter dem wuchtigen Instrument stehen. Und
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