Abaton
kompliziert. Auf einmal war alle Reinheit, alle Klarheit, die er im Innern der Orgel empfunden hatte, wie weggeblasen. Zweifel tauchten wieder auf. Hatte Rob nicht recht? Musste er nicht langsam mal beginnen, sein eigenes Leben zu leben? Das ganze letzte Jahr war es ihm nur um die Suche nach seinen Eltern gegangen.
Er spürte plötzlich die Last, die er sich damit aufgeladen hatte. Was hatte er beweisen wollen? Dass es nicht die Schuld der Eltern war, dass sie verschwunden waren? Weil er es nicht ertragen konnte, dass sie ihn zurückgelassen hatten? Dabei waren seine Eltern doch alles andere als Vorzeigeeltern gewesen. Jede Fernseh-Nanny hätte ihnen ins Gewissen geredet, dass sie sich mehr um ihren Sohn kümmern sollten, dass ihr Beruf ihnen zu wichtig sei. Dass ein Kind Liebe und Zuwendung brauche.
Linus spürte, wie er sich gegen den Gedanken wehrte, dass er all das jetzt hatte. Rob und Helga waren für ihn da. Die Zwillinge bewunderten ihn. Er bekam regelmäßige und gesunde Mahlzeiten. Seine Hausaufgaben wurden besprochen. Sie fragten ihn bei allem und jedem nach seiner Meinung. Diese „Flanders“ waren trotz aller Schrägheiten wahrscheinlich eine vollkommen normale und intakte Familie; Linus kannte es eben nur nicht. Rob und Helga waren bereit, ihn anzunehmen, so wie er war.
Und Linus? Sehnte sich noch immer nach dem Chaos seiner eigenen Familie zurück.
Linus marschierte zum Pfarrhaus und schüttelte den Kopf über sich. Er hatte sich ganz schön verrannt. Und er hatte sich wohl verliebt. In Edda. Seine Gedanken, seine Gefühle ... alles war schrecklich verknotet. Er hasste das. Er musste aufräumen. Und zwar jetzt gleich. Der erste Schritt würde sein, die Daten auf seinem Laptop zu löschen. Die Informationen über seine Eltern und ihre Forschungsarbeit – alles Quatsch und nichts als sentimentale Sehnsucht. Und was Edda betraf … Edda war so weit weg. Es war vollkommen unlogisch, ihr nachzuhängen. Logisch war es, mit Judith was anzufangen. Sie war hier, war greifbar und sie war verrückt und zu allem bereit.
Und es war logisch, die Flanders als seine neue Familie zu akzeptieren. Die Entscheidung war gefallen. Er würde beginnen, sein Leben zu leben! Und zwar heute noch ...
[ 1209 ]
Simon rannte die Stufen der Unterführung hoch und in das alternative Café, in dem seine Mutter servierte. »Cafe Lombardi« stand über dem Eingang. Durch das Schaufenster grüßte er Francesco, den italienischen Koch, der als Schiffskoch gearbeitet hatte und viele Jahre zur See gefahren war.
Das Café war fast leer.
Seine Mutter stand auf den Tresen gestützt und blätterte in einer Zeitung. Als Simon eintrat und sie ihn erkannte, hellte sich ihre Miene auf und ein Funkeln trat in ihre Augen. Simon liebte dieses Lächeln, wenn sie ihn plötzlich irgendwo erblickte. Dann wusste er, dass sie ihn liebte. Blöd nur, dass sie nicht nur ihn so ansah.
Sie kam hinter dem Tresen hervor und umarmte ihn kurz. „Gut siehst du aus. Wie war’s? Willst du was essen? Wir haben frische Tofu-Schnitzel mit Gurkensalat.“
Simon schüttelte den Kopf. „Ich werde Papa besuchen“, sagte er nur.
Für einen Augenblick stutzte seine Mutter. Ihr Gesicht verfinsterte sich. „Im Gefängnis?“
Simon nickte. Er hatte seinen Besuch schon per Telefon in der JVA Stammheim angekündigt. Er sagte, er werde bei einem ehemaligen Klassenkameraden übernachten, der nicht weit von Stammheim wohne. Simon wusste, was sich jetzt hinter der Stirn seiner Mutter abspielte. Da leuchtete ein rotes Warnsignal auf, das ihr sagte „Problem im Anmarsch“. Sie wusste, dass sie als verantwortungsvolle Mutter diesen Plan durchkreuzen müsste. Da war Simons jugendliches Alter, dann die Kosten für die Fahrt und Übernachtung, überhaupt die Gefahren, die überall lauerten … Simon stellte sich vor, wie sich eine weitere Signallampe einschaltete, die ihr sagte, sie müsse jetzt Autorität zeigen. Aber Simons Mutter drehte sich um, ging zur Kasse, nahm 50 Euro heraus und reichte sie ihrem Sohn.
„Mehr hab ich nicht.“ Sie griff nach seiner Hand und hielt sie fest. Unwillkürlich musste Simon an Edda denken. Wie er im Untergrund ihre Hand gesucht hatte und wie sie es hatte geschehen lassen. Edda.
„Wann kommst du wieder?“
„Ich geb Bescheid. Sind ja noch Ferien.“
Sie schauten sich an und Simon merkte, dass es seiner Mutter recht war, wenn er ging. Und er merkte, dass ihm das einen Stich versetzte.
„Mumbala und ich werden heiraten, Simon“,
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