Abaton
Er konnte es nicht anders für sich formulieren. Genauso fühlte es sich an. Unwillkürlich schloss Linus die Augen und auch wenn er sich dabei dumm vorkam, öffnete er nun den Mund. Ein unbeschreibliches Gefühl erfüllte ihn. Es war, als nähme der Klang Besitz von ihm. Er war jetzt ganz und gar Musik. Sein Mund verzog sich zu einem Lachen. Kein Lachen über irgendeinen Witz oder jemandes Missgeschick. Es war ein Lachen des Glücks. Der reinen Glückseligkeit. Ein Lachen wie ein Geschenk. Linus wünschte sich, dass dieser Moment niemals verginge. Doch dann wurde der Ton leiser und drohte zu verklingen. Judith kam durch die kleine Tür zurück.
„Komm! Los!“ Sie zerrte ihn heraus und die Treppe hinunter und hockte sich mit ihm in eine der hinteren Bänke. Mit einem Mal sprang das Licht an. Rob und Helga kamen herein. Sie hatten die Orgel gehört. Verwundert gingen sie die Treppe hinauf. Linus und Judith nutzten diesen Moment und huschten ungesehen hinaus.
Draußen liefen sie lachend weiter, bis sie nicht mehr konnten. In dem kleinen Park in der Nähe ließen sie sich auf den Rasen fallen. Außer Atem lagen sie da. Kopf an Kopf. Schauten in den beginnenden Sternenhimmel.
„Uni-versum“, sagte Judith schließlich. „Weißt du, was das heißt?“
„Kommt von »universus«. Ist Latein. Heißt »gesamt«“, sagte Linus, stolz, dass doch etwas aus dem Lateinunterricht hängen geblieben war.
„Stimmt nicht“, sagte Judith. „Ich hab gelesen, Uni-versum heißt »ein Lied«.“
„Hast du Latein?“
„Nee.“ Judith war sich trotzdem absolut sicher. „Aber ist doch klar. Ein Lied, ein Klang. Geil, oder?“
Sie hatte sich aufgerichtet und schaute ihn erwartungsvoll an. Er nickte und war in Gedanken wieder in der Orgel.
„Aber es war zu kurz. Müssen wir wiederholen, um dich ganz zu heilen“, sagte Judith.
Linus nickte. „Wie kann das sein? Ich ... ich war total leer, irgendwie. Und trotzdem … ganz erfüllt. Ich hab mich noch nie so lebendig gefühlt.“ Er verzog das Gesicht. „Scheiße, klingt ja voll peinlich.“ Es fiel ihm schwer, die richtigen Worte zu finden, für das, was er empfunden hatte. „Was war das für ein Ton?“, fragte er.
„Nicht einer. Es waren drei. Keine Ahnung, wie die heißen. Hab ich mir aber gemerkt. Sind aus dem Lied, was die gesungen haben. »Penis Angelicus« oder so ähnlich ...“
„»Penis Angelicus«?“ Linus lachte laut auf. „Du bist irre!“
„Das will ich wohl meinen“, sagte Judith stolz und ernst zugleich. Dann schwiegen sie. Linus sah sie an. Judith lächelte und in diesem Moment war sie wie verwandelt. Plötzlich war sie nicht mehr das raue, ungehobelte Mädchen mit der großen Klappe, sondern einfach nur eine junge, unsichere Heranwachsende, die so gerne schon eine Frau gewesen wäre. Linus rutschte näher zu ihr. Unwillkürlich aber kam ihm Edda in den Sinn und es war, als würde sie sich vor Judith schieben.
„Kannst mich küssen, wenn du willst“, sagte das Mädchen hinter Edda.
Linus zögerte.
„Hab auch keinen BH an“, sagte Judith. Weil er zögerte, begann sie ihre Unsicherheit wieder hinter ihrer rauen Schale zu verbergen.
Linus irritierte und reizte ihr Angebot gleichermaßen. Aber so sehr er es auch versuchte, Edda ließ sich nicht vertreiben. Er lächelte, wie um Judith zu trösten. Das reichte ihr nicht. Weil sie genau verstand, wie er es meinte. Abrupt stand sie auf.
„Muss sowieso nach Hause“, sagte sie und deutete zurück zu der Kirche und zu dem Pfarrheim, in dem noch Licht brannte. „Meine Mutter fährt gleich zurück; mit ’nem Bass und ’nem Tenor.“
„Ich dachte, sie singt nicht ...“
„War auch gelogen“, sagte sie und lächelte.
„Wie ‚auch‘?“, fragte Linus.
„Ach“, sagte Judith nur. „Du darfst mich nie belügen. Klar? Dazu mag ich dich zu sehr.“
Sie drückte ihm schnell einen Kuss auf den Mund, rappelte sich auf und war verschwunden. Linus schaute ihr nach, bis ihre Silhouette mit der Nacht verschmolzen war. Dann stand auch er auf und während er noch versonnen dastand, wurde ihm bewusst, wie er sich vorsichtig mit der Zunge über die Lippen fuhr. Und den Geschmack von Judiths Lippen kostete. Linus schluckte.
Was hatte ihm sein Herz für einen Streich gespielt? Da hätte er alles haben können von diesem herrlich verrückten Mädchen, aber er ließ es sausen für die unerreichbare Edda.
Meine Scheiße, wenn das Liebe ist, dachte Linus. Mit einem Mal war wieder alles schrecklich
Weitere Kostenlose Bücher