Abaton
Isch!“
„Mann, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll!“
Simon holte tief Luft. Gleich würde er loslegen und Häuptling Mumbala sagen, dass er seinen Geruch in der Wohnung nicht mochte. Und seine lachende, dröhnende Stimme, die alles übertönte, vor allem die leisen Töne, die einmal zwischen Simon und seiner Mutter geherrscht hatten. Und seine scheinbar unbeholfene Art, wenn es darum ging, etwas Unangenehmes zu erledigen. Dass er nach fünf Jahren immer noch kaum Deutsch konnte. Dass er mit seiner Mutter schlief und Simon in seinem Zimmer ihr lustvolles Stöhnen hören musste! Und dass seine Mutter danach so glücklich aussah. So glücklich, wie sie war, als Simon noch ein Kind gewesen und sein kleiner Bruder noch am Leben war und sein Vater bei ihnen. Als Simon noch Wünsche, Träume und noch eine Zukunft gehabt hatte.
Aber was zum Teufel konnte Mumbala dafür?
Simon atmete aus. Und auch wenn er nichts davon gesagt hatte, wusste er in diesem Moment, dass Mumbala trotzdem alles verstanden hatte.
Die beiden starrten sich an.
Mumbala schluckte. Auch er sagte nichts. Aber Simon spürte die Wut und Enttäuschung des riesigen Mannes, die nicht nur dem weißen Jungen galt, sondern auch seinem eigenen Schicksal, das ihn in dieses kalte und unfreundliche Land geführt hatte. Simon fühlte die Angst und die Trauer, die sich hinter Mumbalas geröteten Augen verbargen, und die dunklen, wirren Gedanken hinter der mächtigen Stirn. Simon ahnte, dass es im Grunde keine schlechten Gedanken waren, auch wenn dieser große Kerl nicht wusste, wie er das Gute bewirken konnte. Mit einem Mal spürte Simon, wie die ganze Trauer der letzten Jahre, die er ohne seinen Vater und seinen Bruder zugebracht hatte, in ihm aufstieg und sich hinter seine Augen schob. Es war wirklich ein Fehler gewesen zurückzukommen.
„Vergiss es einfach, Mann!“, sagte Simon.
Dann ging er wieder hinaus. Vor dem Hauseingang hingen wie immer die Araber ab. Sie blickten ihn schweigend an. Ohne sie anzusehen, aber auch ohne ihnen aus dem Weg zu gehen, schritt Simon zwischen ihnen hindurch.
Simon ging.
Einfach weiter.
Niemand sagte ein Wort.
Niemand pöbelte ihn an oder machte eine Bemerkung gegen ihn oder seine Mutter oder seinen toten Bruder oder seinen Vater, der im Knast saß. Simon versuchte, sich seine Verwunderung nicht anmerken zu lassen.
Als er auf den beschmierten Eingang des Einkaufsmarktes zuging, vorbei an den Trinkern, die jeden Tag davorsaßen und »House of the Rising Sun« auf der Mundharmonika bliesen, als wäre es ein Folterwerkzeug, da wusste er plötzlich, dass er gehen würde. Nein, er ging schon.
Er war schon gegangen.
Heute und ohne jemanden zu fragen.
Allein bei dem Gedanken durchschoss ihn ein Glücksgefühl und schob sich wie eine klare, durchsichtige Sonne durch den dichten Wolkenvorhang seiner Sorgen und Ängste. Inmitten dieser lausigen Gegend mit ihren Assis und Pennern, ihren unglücklichen Menschen, die nie eine Chance gehabt hatten und nie eine haben würden und zu denen er bis eben gehört hatte, begann Simon zu jubeln.
Und zu schreien.
Er hatte eine Chance. Er wusste, dass es Zeit war für eine Veränderung. Eine große Veränderung. Und er wusste auch, dass er die Kraft dazu hatte. Und er wusste mit Sicherheit, dass es die Begegnung mit seinem toten Bruder war, die ihm nun die Kraft, die Entschlossenheit gab zu handeln. Die Begegnung mit David im kalten Wasser des Sees. Und sein Verzeihen ...
„Alles ist anders!“, schrie Simon und lachte und die Penner, die eigentlich das Monopol aufs Schreien hatten, weil sie sonst nichts hatten, starrten verstört in seine Richtung.
Simon lief zur Straßenbahn und fuhr drei Haltestellen. Er stieg im ersten Wagen ein und schaute aus dem Fenster, als die Bahn hielt. Keine Kontrolleure. Nein, heute würde ihn niemand erwischen! Simon spürte eine Kraft, einen Mut in sich, den er bisher nicht kannte. Er griff zu seinem Handy und rief eine Nummer in Stammheim an ...
[ 1206 ]
„Linus“, sagte Rob ernst, als sie den Wagen vor dem Pfarrhaus ausluden. „Ich möchte mit dir sprechen. In 15 Minuten in meinem Büro, ja?“
Linus nickte nur. Er wusste, dass jeder Widerstand zwecklos gewesen wäre. Zu einem Ohr rein, zum anderen raus, und während der Passage der Wörter durch seinen Kopf ab und an mal nicken. Das war die Taktik, die sich als die praktischste erwiesen hatte. Nur nicht mit Rob diskutieren. Das konnte Stunden dauern. Rob ertrug keine Widerworte, aber das
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