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Abaton

Abaton

Titel: Abaton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Jeltsch
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lauschte gebannt.
    Eine wundersame Akustik herrschte hier, im Schatten der Orgel. Linus war wie abgeschnitten von der restlichen Welt und fühlte sich inmitten dieser Klänge dennoch unendlich geborgen. Er setzte sich auf einen Stuhl, hörte zu. Linus verstand die Worte nicht, die die Stimmen sangen. Es war ein lateinischer Text. Aber sein Latein reichte nicht aus, um ihn zu übersetzen. Er wollte es auch nicht, er wollte sich nur diesem Klang hingeben. Ja, »hingeben« war das richtige Wort. Linus schloss die Augen und es schien, als würde sich vor seinen Augen ein Gesicht abzeichnen. Doch es war weder das Gesicht seiner Mutter noch seines Vaters. Es war ...
    „He, Schwuli!“
    Das Gesicht vor Linus’ Augen verschwand. Er öffnete die Augen und schaute sich um. Wer hatte da mit ihm geredet?
    „Hier, Schwuli. Über dir!“
    Linus schaute nach oben. Dem fetten Tropfen Spucke konnte er nicht mehr ausweichen. Er flatschte Linus direkt auf die Stirn.
    „Volltreffer!“
    Linus war vollkommen überrumpelt. Er war noch so weit weg von der äußeren Welt und allem Bösen, dass er gar nicht wütend sein konnte. Doch als sie jetzt von den Orgelpfeifen herabkletterte, an die sie sich geklammert hatte, spürte er, dass seine Wutfähigkeit von Sekunde zu Sekunde zunahm.
    „Judith ...? Was soll das?“, fragte Linus. Ärgerlich wischte er sich die Spucke ab und hielt die Hand vor Judith, als wollte er ihr ihre Gemeinheit im wahrsten Sinne des Wortes unter die Nase reiben.
    „Reg dich ab. Hast schließlich schon meine Zunge im Hals gehabt“, sagte sie trocken. „Hat dir auch nich’ geschadet, oder?“
    Linus war immer noch wie vor den Kopf geschlagen. Doch bevor er etwas erwidern konnte, hatte Judith bereits wieder das Wort ergriffen.
    „Meine Mutter singt im Chor. Sopran.“ Sie verdrehte die Augen. „Hat’s früher mal mit Schlagern versucht. Mutantenstadl und so. Dann kam ich und ihre Karriere war vorbei. So bin ich nun mal. Immer an allem schuld.“ Sie grinste.
    „Wieso eigentlich ‚Schwuli‘?“, fragte Linus, immer noch ziemlich verwirrt.
    „Was soll ich denn sonst davon halten: Wenn ich einen küsse und der meldet sich nich’ mehr ... Dann muss er schwul sein. ’ne andere Erklärung gibt’s nich’.“
    Sie sagte das mit so viel Überzeugung, dass es Linus für einen kurzen Moment abermals die Sprache verschlug. Er sah sie an wie ein Wesen von einem anderen Stern. Zu den Klängen der Orgel und des Chors erzählte Linus Judith flüsternd, was seit ihrer letzten Begegnung geschehen war. Er berichtete vom Verschwinden seiner Eltern, von seiner „neuen“ Familie, dass er jetzt woanders wohne und in eine andere Schule gehe und er erzählte von Berlin.
    Judith hörte zu, ohne ihn zu unterbrechen. Die kleinen Falten über ihrer Nasenwurzel kräuselten sich immer mehr und signalisierten, dass sie das, was Linus ihr da erzählte, ehrlich berührte.
    „Weinst du?“, fragte Linus fasziniert.
    „Komm mit“, sagte sie. Sie führte ihn zu einer kleinen Tür, durch die man in das Innere der Orgel gelangen konnte, wenn zum Beispiel Orgelpfeifen ausgetauscht oder repariert werden mussten.
    Judith bedeutete Linus zu schweigen. Das Orgelspiel näherte sich seinem furiosen Finale. Lange schwang der letzte tiefe Ton noch nach. Linus spürte ein Vibrieren tief in sich drinnen.
    Er hörte, wie Rob unten die Gemeinde verabschiedete. Der Chor verließ die Empore, ebenso wie Robs Frau Helga, die die Organistin war. Die Lichter in der Kirche erloschen. Judith und Linus waren allein.
    „Musst du nicht mit deiner Mutter zurück?“, fragte Linus.
    „War gelogen. Sie singt hier gar nicht.“
    „Warum bist du dann hier?“
    Sie sagte nichts, schaute ihn nur an.
    „Warte kurz hier“, sagte sie und schlüpfte zur Tür hinaus. Linus erwischte gerade noch ihre Hand, bevor sie die Tür schließen konnte.
    „Wenn du mich hier einsperrst ...“, drohte er.
    „Bist du doch ’n feiger Schwuli?“
    „Was hast du vor?“
    „Ich werde dich heilen“, sagte sie. „Versprochen. Du musst dich in die Mitte stellen. Und den Mund aufmachen. Das ist wichtig. Augen zu und Mund auf. Gibt aber keinen Kuss.“
    Damit war sie verschwunden. Linus zweifelte. An dem, was Judith vorhatte. An dem, was er hier tat. Vor allem an seinem gesunden Menschenverstand. Wenn der denn jemals „gesund“ gewesen war.
    Linus hörte, wie draußen das elektrische Gebläse für die Orgel angestellt wurde. Und dann begann ganz zart, ein Klang ihn zu umfangen.

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