Abaton
sagte sie, als hätte sie seine Gedanken gelesen.
Simon schwieg. Sie konnte ihn immer noch so verletzen. Einfach so. Aus dem Nichts. Das gute Gefühl, das er hatte, seit er aus dem Haus gegangen war, war plötzlich bedroht.
„In Afrika. Bei seiner Familie.“
Simon sagte nichts. Das gute Gefühl verschwand nicht.
„Du bist herzlich eingeladen und ich würde mich freuen, wenn du mitkommst.“
Er nickte. Am liebsten hätte er ihr ins Gesicht gesagt, dass Mumbala sie ausnutzte. So wie sie alle Männer nach seinem Vater ausgenutzt hatten. Davids Tod hatte so viel zerstört. Vor allem ihr Selbstbewusstsein. Simon war klar, dass auch er seine Mutter ausnutzte. Aber er hatte das Gefühl, dass er wenigstens das Recht dazu hatte. Er war ihr Sohn. Und er war in der Pubertät.
„Hat es einen besonderen Grund, dass du deinen Vater gerade jetzt sehen willst?“, fragte Francesco, der zum Tresen kam und wohl mitgehört hatte.
„Ich weiß, dass es das Richtige ist“, sagte Simon.
Francesco nickte. Seine Mutter nickte. Simon fand, dass diese Frage eigentlich von seiner Mutter hätte kommen müssen. Er nahm sie in den Arm und drückte sie kurz. Dann ging er hinaus und rannte die drei Haltestellen zurück zur Wohnung. Es tat ihm gut, mal wieder zu laufen, ohne wegzulaufen. Er dachte daran, wie schwer es für Linus gewesen sein musste, beide Eltern zu verlieren. Und mit der Ungewissheit zu leben, was ihnen zugestoßen war. Jetzt tat es ihm leid, dass er sich mit Linus noch kurz vor der Abfahrt geprügelt hatte.
Doch Linus war in diesem Moment völlig verrückt gewesen. Er hatte sie als Feiglinge und Verräter beschimpft. Simon hatte ihn nur beruhigen wollen. Aber der verdammte Linus hatte nicht locker gelassen. Wie eine Zecke hatte er sich an sie gekrallt. Was hatte ihn nur plötzlich wieder so fanatisch werden lassen? Noch am Abend vorher schien sich Linus damit abgefunden zu haben, dass er auf dem Holzweg war. Und plötzlich redete er wieder von Verschwörung und Verfolgung und all dem Scheiß. Ach, und Edda! Wenn er an ihren verführerischen Augenaufschlag dachte oder daran, wie sie das Haar in den Nacken warf, hätte er am liebsten seine Sachen gepackt und wäre zu ihr gefahren. Aber sie hatte ihn „Idiot“ genannt, nachdem er auf Linus losgegangen war. Wenn Simon daran dachte, versetzte es ihm immer noch einen Stich.
Er lief weiter durch die von Neonreklamen beschienenen Straßen, vorbei an einem Internetladen und arabischen Geschäften, die Sattelitenschüsseln und Prepaidkarten verkauften.
Dabei wusste Simon ganz genau, warum er Linus geschlagen hatte. Denn tief in seinem Inneren teilte er Linus’ Überzeugung, dass doch nicht alles so harmlos war, was sie im Camp erlebt hatten. Er glaubte nicht daran, dass ihre Verfolger in Wirklichkeit die Security für das Camp gewesen waren. Etwas an ihrer Energie, an der Wut, mit der sie sie verfolgt hatten, sagte es ihm. Und die merkwürdigen Dinge, die ihnen auf der Flucht zugestoßen waren.
Die volle Härte.
Und dann die Veränderungen, die sie an den anderen Campteilnehmern plötzlich wahrgenommen hatten, nachdem diese in der Nacht zuvor die Diskothek besucht hatten.
Simon wollte sich instinktiv vor der Wahrheit schützen, nicht weiter danach graben. So sein wie alle anderen und keine Fragen stellen. Vor allem wollte er nichts Besonderes sein. Deshalb hatte er Linus ins Gesicht geschlagen. Simon ahnte, dass es mehr gab als die Fakten, die sie ihnen erzählt hatten. Menschen konnten ihm nichts vormachen, er spürte, ob sie gute Absichten hegten oder was Böses im Schilde führten. Vielleicht hatte er das ja von seinem Vater.
Bevor Simon ins Camp gefahren war, hatte er unter der Duschkabine hinter einer losen Kachel eine Aldi-Tüte voller Geldscheine und kleiner, portionierter Drogenpäckchen entdeckt. Simon war sich sicher, dass seine Mutter nichts davon wusste, sondern brav ihr Kellnergeld zu Hause ablieferte, damit Mumbala nicht arbeiten musste. Er aber behielt sein Drogengeld für sich. Immer wieder hatte Simon gehört, wie Mumbala seine Mutter um Geld angehauen hatte. Simon kaufte sich eine Cola und ging weiter.
[ 1210 ]
Es war schon Nacht, als Edda das Haus betrat. Auch Marie war eben erst heimgekehrt. Sie sah mit einem Blick, was mit Edda los war.
„Der Junge, oder?“, fragte Marie.
Edda nickte, zuerst wütend, dann verzweifelt und dann traurig. Ihr Körper krampfte sich zusammen und die Tränen strömten ihr aus den Augen, während Marie den Arm um sie
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