Abaton
legte, kein Wort sagte und nur in gewissen Abständen mit ihrem Daumen über Eddas Rücken strich. Edda weinte und weinte, bis sie endlich ein bisschen ruhiger wurde und nur noch vereinzelte Schluchzer in ihr aufstiegen und ihren erschöpften Körper zittern ließen.
Wortlos begleitete Marie Edda danach hinauf ins Bett. Sie nahm die nur noch sehr lauwarmen Kartoffeln weg und Edda rollte sich in ihrer Kleidung unter der Decke zusammen.
„Danke“, sagte sie mit leiser Stimme zu Marie.
Marie nickte lächelnd. Sie blickte noch einmal liebevoll auf ihre Enkelin, dann löschte sie das große Licht und in der nächsten Sekunde war Edda eingeschlafen.
Als Edda wieder erwachte, war es dunkle Nacht.
Einen Augenblick lang wusste sie nicht, wo sie war. Aber dann hörte sie die leisen Klänge der Glasharfe. Edda war kalt und sie kuschelte sich in ihre Decke. Sie hatte geträumt und in dem Traum hatte sie ein schönes Gefühl gehabt. Edda wollte zurück dorthin, bevor sich die Ereignisse des vergangenen Tages wieder in ihr Bewusstsein schleichen konnten. Mit geschlossenen Augen lag Edda auf dem Bett und lauschte auf den Wind, der draußen vor ihrem Fenster durch die Kiefern streifte und die zu Glas gewordenen Blitze zu einer zarten Melodie ermunterte. Sie versuchte, sich auf ihr Atmen zu konzentrieren und zu jedem Atemzug nur ein Wort zu denken. Eines mit zwei Silben.
Eines, das sie beruhigte.
Ein- und Ausatmen.
Ein Wort, das schön klang und ihre Seele beruhigte. Immer das Gleiche: Seewind, dachte Edda.
Das klang gut und verscheuchte die aufsteigenden Gedanken. Seewind machte müde. Gab ihr Trost, und das Gefühl, nicht ihren Gedanken ausgeliefert zu sein, nicht an ihn und an Sophie denken zu müssen, die jetzt vielleicht Arm in Arm ... Seewind ... Seewind ... Seewind ...
Edda hörte, wie Marie in ihrem Zimmer nebenan auf und ab ging. Wie die Dielen knackten. Wie sie leise telefonierte. Mit wem? Egal. Edda lauschte dem Wind, der in den Bäumen spielte, und sie fand das Gefühl wieder, das sie aus dem Traum mitgenommen hatte. Dem Traum, an den sie sich nicht mehr erinnern konnte. Seewind ... Seewind ...
Edda schlief wieder tief und fest.
Und bald war sie nicht mehr Edda, sondern ein Tier. Ein weiches Tier mit Fell, das in einer Mulde lag.
Edda spürte, wie der Wind über ihr Fell strich, und dass ihre Haare die Signale vom Wind empfingen wie kleine Antennen, und dass der Wind alles zu ihr trug, was sie wissen musste. Das Tier brauchte den Kopf nicht zu heben, um zu sehen, was sich außerhalb der Mulde ereignete. Ihr Fell, jedes Haar eine kleine, feine Antenne, sagte Edda, was sie wissen musste und Edda fühlte sich so unsäglich wohl und behütet in diesem Traum. Sie war allein, aber nicht einsam, und eins mit der Welt um sich herum. Sie wusste, dass sie in sich ruhte und dass darin die Kraft des Tieres begründet war. Das Tier wusste nur, dass es das wusste. Es wusste nicht, wer Edda war und auch nicht, dass Edda wusste, wer das Tier war. Das Tier dachte nicht. Es lebte und fühlte. Wie Edda. Edda verharrte in diesem Zustand und genoss die warme Sonne und die leichten Bewegungen des Fells. So hätte es ewig weitergehen können.
Edda war selig.
Doch mit einem Mal spürte Edda, wie ein dunkler Schatten sich näherte und begann, sich über die Mulde zu schieben. Sie versuchte, den Schatten zu ignorieren. So wie man eine kleine Wolke ignoriert, die sich vor die Sonne schiebt und für die man nicht die Augen öffnen möchte, weil man zu faul ist und zu glücklich und weil man diesen perfekten Augenblick in seiner Erinnerung verankern möchte.
Am liebsten für immer.
Edda spürte, wie die Angst und der Wunsch zu fliehen in ihr entstanden. Wie Angst und der Drang zu flüchten das schöne Gefühl verdrängten und immer stärker wurden. Wie sie in den Körper des Tieres fuhren und zu einem Sprung verschmelzen wollten. Die Mulde verlassen und hinaus ins Freie zu springen! Zu fliehen.
Doch sie wusste nicht, ob sie fliehen konnte.
Sie wusste nicht, was der Schatten war und was er eigentlich wollte. Was, wenn er sie töten würde, sobald sie die Mulde verließ? Vielleicht hatte der Schatten sie gar nicht gesehen? Vielleicht suchte er jemand anderen?
Sie machte sich noch kleiner. Kauerte sich noch weiter zusammen, bis ihre Gelenke knackten. Und der Schatten senkte sich tiefer. So tief, dass er den Eindruck des Windes verdrängte und das Fell des Tieres sich anlegte. Sie spürte, dass der Moment zur Flucht verstrichen
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