Abaton
Es war, als könnte Olsen seine Gedanken lesen.
„Vielen Dank für die Milch. Aber ich muss jetzt gehen“, sagte Linus.
„In Ordnung“, sagte Olsen. Damit hatte Linus nicht gerechnet. Dass Olsen ihn so einfach gehen ließ. Offenbar führte er doch nichts Böses im Schilde. Linus hatte gleich ein schlechtes Gewissen, weil er Olsen zu Unrecht verdächtigt hatte. Der sah ihn nur müde an. „Bring mir ein Geschenk mit, wenn du wiederkommst.“
„Was ...?“, fragte Linus und schüttelte den Kopf. „Ich hatte eigentlich nicht vor ...“
„Du wirst wiederkommen, glaub mir.“ Olsen sagte es ohne jeden Zweifel. Linus verunsicherte diese Sicherheit. „Vergiss das Geschenk nicht. Einem Freund bringt man immer ein Geschenk mit“, sagte Olsen noch einmal. Dann ging er ohne ein weiteres Wort nach nebenan.
Linus blieb allein zurück; mit Timber. Verstört hörte er, wie Olsen Musik auflegte. Linus kannte sie. Es war das Lied, das der Chor in der Kirche gesungen hatte.
„»Penis Angelicus«“, sagte er zu sich und grinste beim Gedanken an Judith.
Dieser geheimnisvolle Mann und diese geheimnisvolle Musik hielten ihn irgendwie gefangen. Linus war plötzlich nicht mehr danach, in den Verschlag zurückzukehren. Als hätte es ihm eine Stimme eingeflüstert, stellte er sich vor eines der Regale mit den vielen Büchern und las die Titel auf den Buchrücken. Ein Buch über Hypnose. Die ganze Regalwand schien nur Bücher zu diesem und ähnlichen Themen zu enthalten. Darunter einige Bücher von Alfred Russel Wallace und Franz Anton Mesmer, Bücher über Schamanen.
Ein komisches Gefühl beschlich Linus. Der Zufall hatte ihn hierhergeführt. Oder war es kein Zufall? Er hatte diese Hypnose-App auf seinem I-Phone angesehen, eine seltsame Vision von seinen Eltern gehabt und war anschließend ziellos umhergeirrt. Um dann zu seinem früheren Zuhause zurückzukehren. Und jetzt war er bei diesem merkwürdigen Mann mit diesem Blötsch im Kopf gelandet, der eine Menge über Hypnose gelesen zu haben schien ...
Linus wurde das Ganze allmählich unheimlich. Auch die Kirchenmusik von nebenan beruhigte ihn jetzt nicht mehr. Aber wenigstens war ihm jetzt wieder eingefallen, dass es sich bei diesem Hymnus um »Panis Angelicus« und nicht »Penis Angelicus« handelte, wie von Judith behauptet.
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Der Sprung auf die Mauer fiel ihm nicht schwer. Ein Satz auf die Mülltonnen, abspringen und hochziehen und schon stand Simon auf dem Sims der hohen Mauer. Er balancierte ein kurzes Stück, dann griff er nach dem steinernen Kreuz. Es ragte trotzig hoch in die Nacht, als hätte man dem Gekreuzigten die Aussicht über die Mauer gönnen wollen. Simon hangelte sich am Heiland herab und stand auf dem Friedhof. Er schaute noch einmal hoch und schüttelte lächelnd den Kopf. Immer wenn er einen Jesus hängen sah, dachte er daran, dass man all die toten Gottessöhne nur von ihrem Kreuz abnehmen und nebeneinanderstellen müsste. Schon hätte man ein paar selbstvergessene, selig trunkene Sirtakitänzer aufgestellt. David hatte ihn darauf gebracht, als er damals ein Foto von Alexis Sorbas gesehen hatte, der Hauptfigur aus dem Lieblingsfilm seiner Mutter. David ...
Simon fand sein Grab, obwohl es dunkel war. Überall flackerten die ewigen Lichter. Oder waren es die glühenden Augen der Trolle, die die Toten in den Nächten bewachten? Meine Güte, David, dachte Simon. Wie konnte der Sohn eines Ingenieurs so unrealistisch sein? Er stand vor dem Grab des Bruders. Und wusste plötzlich nicht mehr, was er hier sollte. Frische Blumen standen da, wie immer. Auch hier brannte ein ewiges Licht. Simon verharrte. Wartete, was er empfinden würde. Dass er überhaupt etwas empfinden würde. Aber da war nichts. Da war nur der Wind in den Bäumen, das vereinzelte Geräusch eines Autos, das draußen vorüberfuhr. Und da waren Simons Gedanken. Die ihn aufforderten, etwas zu sagen. So etwas wie‚ tut mir leid. Es kam Simon nicht über die Lippen.
Vielleicht hätte ich David sehen sollen, als er tot war, dachte Simon. Vielleicht wäre er mir dann nicht mehr so nah.
Die Gedanken wurden zu Stimmen. Sie wurden lauter, fordernder. Aber Simon wusste, hier war David nicht. Hier würde er es niemals mitbekommen, wenn er sich entschuldigen würde. Simon lief los ...
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Olsen saß in seinem Schwebestuhl und lauschte der Musik. Als er die Tür nebenan ins Schloss fallen hörte, lächelte er. Er schaute auf den Computerbildschirm. In der Einblendung oben rechts sah
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