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Abaton

Abaton

Titel: Abaton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Jeltsch
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seinen Gedanken gerissen, als er jemanden vorbeisprinten sah. Mumbala. Auf dem Weg zur Haltestelle.
    [ 1222 ]
    Linus war mit der nächsten U-Bahn in Richtung Stadtmitte zurückgefahren und stieg jetzt an der U-Bahn-Station Melaten aus. Als er aus dem Untergrund kam, sah er in den Sternenhimmel. Direkt über ihm zog eine Sternschnuppe dahin. Jetzt hätte er sich etwas wünschen können. Aber Linus hatte nicht die Kraft, sich einen Wunsch zu überlegen. Er wollte sich auch nichts mehr wünschen, weil es doch sowieso nicht in Erfüllung gehen würde.
    Als wäre er noch immer unter Hypnose, lenkten seine Schritte ihn automatisch zu dem Haus, in dem er früher gewohnt hatte. Er kannte einen Platz, wo er schlafen konnte. Hinter dem Gewächshaus seiner Eltern gab es einen Verschlag. Sie hatten das Gewächshaus von der Gärtnerei gemietet, die sich nach dem Krieg im Hinterhof des Hauses angesiedelt hatte. Manchmal hatte sich Linus in dem Verschlag versteckt, um seinen Eltern heimlich bei der Arbeit zuzusehen. Er beobachtete, wie sie mit ihren Gerätschaften hantierten, vor dem Computerbildschirm seltsame Diagramme und Skizzen betrachteten, miteinander redeten, wie sie sich hin und wieder berührten, ja sogar küssten.
    Linus fiel das jetzt erst auf, dass er diese Momente als Glück empfand. Damals, als er die Eltern beobachtete, fühlte er sich gut; ja. Aber Glück? Er hätte es damals sicher nicht so genannt. Vielleicht war das mit dem Begreifen von Glück immer nur im Rückblick möglich, dachte Linus, als er in den Hinterhof ging, wo die Gewächshäuser standen. Vielleicht war das Leben wie ein langer Wanderweg, der immer wieder über Glückshügel führte, und erst wenn man sich auf einem der Hügel umsah, konnte man erkennen, wie viel Glück man eigentlich schon erlebt hatte ...
    Die Tür des Verschlages war noch immer nur mit einem Riegel gesichert. Linus schlüpfte hinein und fand alles vor, wie er es zuletzt verlassen hatte. Da waren die Plastiksäcke mit Humus, auf denen man es sich herrlich bequem machen konnte.
    Linus legte sich auf den Stapel und sah durch das kleine Fenster hinaus. Sein Blick fiel auf das Fenster seines früheren Schlafzimmers. Es brannte noch Licht. Linus konnte sehen, wie jemand im Zimmer auf und ab ging. Eine junge Frau mit einem Baby auf dem Arm. Sie hielt es zärtlich umfangen und schien ihm ein Lied vorzusingen.
    Linus spürte, wie sich ihm die Kehle zuschnürte. Diese verdammte Sehnsucht nach Familie. Und dieses verdammte Geheule. Sein Zusammenbruch in der U-Bahn hatte offenbar sämtliche Schleusen geöffnet. Er konnte die Tränen nicht zurückhalten. Also ließ er sie einfach laufen und schluchzte und zog den Rotz in der Nase hoch und heulte weiter ...
    „Timber! Hierher!“, hörte Linus plötzlich eine gedämpfte, aber scharfe Stimme von draußen. Im nächsten Moment war der Hund auch schon bei ihm und fiepte vor Glück. Timber! Er war Linus’ Spur bis zu dem Verschlag gefolgt, durch die klapprige Tür gehuscht und mit einem Satz auf Linus draufgesprungen. Jetzt wusste der Hund gar nicht mehr wohin mit seiner Freude. Drehte sich auf Linus’ Bauch, wedelte, drehte sich wieder, schleckte sein Gesicht ab ...
    Plötzlich erfasste der grelle Schein einer Taschenlampe das verheulte Gesicht des Jungen. Linus versuchte zu erkennen, wen er vor sich hatte, auch wenn er es schon ahnte. Als er die Delle im Schädel des Fremden wahrnahm, hatte er Gewissheit. Die beiden verharrten für einen langen Moment.
    „Mitkommen“, sagte der »Blötschkopp« schließlich. Und so wie er das sagte, war kein Widerspruch möglich.
    Linus folgte dem Mann zu dem kleinen Gartenhaus, das er bewohnte. Timber wuselte ihm die ganze Zeit um die Beine und Olsen, der Blötschkopp, sah sich nicht einziges Mal zu Linus um. Linus hätte leicht weglaufen können, doch etwas an diesem Mann zog Linus bei aller Angst an. Es war das Vertrauen in die Abmachung, die sie eingegangen waren. Er hatte gesagt „mitkommen“ und Linus war von dem Stapel mit Humussäcken heruntergeklettert und ihm gefolgt. Ein Mann, ein Wort. Wobei Linus nicht mal ein Wort gesagt hatte.
    Linus’ Blick war fixiert auf den Kopf des Mannes, der auf der einen Seite sichtbar eingedellt war. War diese auffällige Delle der Grund, warum er nur nachts mit Timber spazieren ging?
    Das Gartenhaus war von innen viel geräumiger, als es sich Linus vorgestellt hatte. Durch die Tür betrat man die Wohnküche. Von dort führten zwei Türen in die angrenzenden

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