Abbau Ost
dabei »eine Föderation, das heißt eine bundesstaatliche Ordnung« im Sinn, die »eine demokratisch legitimierte Regierung
in der DDR zwingend voraussetzt«.
Sein »emotionales Schlüsselerlebnis« hatte Helmut Kohl allerdings erst am 19. Dezember 1989, als er sich mit Ministerpräsident
Hans Modrow zu Verhandlungen in Dresden traf. Hunderttausende Menschen bereiteten dem Bundeskanzler einen unvergesslichen
Empfang. »Mein Ziel bleibt«, sagte Helmut Kohl vor der Ruine der Dresdener Frauenkirche, »wenn die geschichtliche Stunde es
zulässt, die Einheit unserer Nation.« Die Begeisterung kannte keine Grenzen. Allerdings hatte Helmut Kohl die Reaktion der
Dresdener Bevölkerung genau kalkuliert. Kurz zuvor hatte der baden-württembergische Ministerpräsident Lothar Späth in Dresden
ganz ähnliche Erfahrungen gemacht und seinem Parteifreund davon berichtet. Der CDU-Politiker war schon bei seiner Ankunft
auf dem Dresdener Flughafen mit einem Spruchband empfangen worden, auf dem, in Anlehnung an Friedrich Schillers Wallenstein,
zu lesen war: Spät(h) kommt ihr – Doch ihr kommt! Allein der weite Weg entschuldigt euer Säumen.
|274| Gregor Gysi, neu gewählter Vorsitzender der vor wenigen Tagen von SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands) in PDS
(Partei des Demokratischen Sozialismus) umbenannten, dramatisch an Mitgliedern verlierenden Staatspartei, sprach zur gleichen
Zeit, als Helmut Kohl vor der Frauenkirche in Dresden redete, auf dem Platz der Akademie in Ostberlin. Sein Appell klang verzweifelt.
»Und haben wir denn jahrelang Gorbatschow bewundert und auch geliebt, nur um jetzt von der Bundesrepublik vereinnahmt zu werden!
Also lasst uns unseren eigenen Weg gehen, unsere eigene Identität finden.« Gregor Gysi konnte in Ostberlin nicht annähernd
die Begeisterung wecken wie Helmut Kohl während seiner Rede in Dresden.
Bei dem Treffen offenbarte Hans Modrow dem Bundeskanzler einen dringenden Finanzbedarf von 15 Milliarden D-Mark, den er als
»eine Art Lastenausgleich« für den wirtschaftlichen Schaden sah, der Ostdeutschland durch die Grenzöffnung entstanden war.
Kohl reagierte ausweichend auf Modrows Ansinnen und meinte, man solle statt von Lastenausgleich doch lieber von einem »Solidaritätsbeitrag«
sprechen. Tatsächlich beschritt Helmut Kohl, wie ein Autorenteam der Bundeszentrale für Politische Bildung später schreiben
sollte, längst »unbeirrbar den Weg zur Wiedervereinigung. Die politische Entwicklung in Deutschland hatte die Politiker –
zumindest diejenigen der DDR – längst hinter sich gelassen. Bundeskanzler Kohl war einer der wenigen, die dies nach Dresden
spürten.«
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Kleines Büfett bei Helmut und Hannelore
Von zentraler Bedeutung für den Fortgang der deutschen Einigung war ein wenig beachtetes Zusammentreffen beider deutscher
Regierungschefs am Abend des 3. Februar 1990 während des Weltwirtschaftsforums im schweizerischen Davos. Das Gespräch mit
dem DDR-Regierungschef Hans Modrow fand auf Einladung von Helmut und Hannelore Kohl statt. Niemand sonst hörte, was dort besprochen
wurde. Bislang hatte sich Bundeskanzler Helmut |275| Kohl eher abwartend verhalten, er hatte die Ostdeutschen zu ihrer »friedlichen Revolution« ermutigt, das Zusammenwachsen beider
Teile Deutschlands in Aussicht gestellt und die DDR-Regierung mit vagen Andeutungen hingehalten. Er hatte alles vermieden,
was den Regierungschef Hans Modrow aus seiner prekären Lage heraushelfen und den Einigungsprozess in ruhiges Fahrwasser bringen
konnte und sich stattdessen selbst bei den DDR-Bürgern als Kanzler eines vereinigten Deutschland ins Gespräch gebracht. Jeden
Tag verließen etwa 2 000 Menschen die DDR und fanden im Westen ein neues Zuhause. Volkseigene Betriebe konnten die fehlenden
Mitarbeiter kaum noch ersetzen und klagten über Produktionsausfälle. Die Übersiedlung vieler Ärzte führte in Krankenhäusern
und Polikliniken zu einem Versorgungsnotstand. Die Auflösungserscheinungen wurden mit jedem Tag offensichtlicher. In Davos
soll Hans Modrow – so erinnerte sich Helmut Kohl an das Gespräch – die Unhaltbarkeit der Zustände in der DDR eingestanden
und sinngemäß geäußert haben, auch er sehe nun zum Zusammenwachsen beider deutscher Staaten keine Alternative mehr. Noch bis
Ende 1989 sei die Lage einigermaßen stabil gewesen, inzwischen werde die Stimmung zunehmend aggressiver. Die Autorität des
Staates sei im Schwinden,
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