Abbau Ost
eröffnete. »Übrigens«, sagte Schabowski,
»wir werden Reisefreiheit geben.« Der erstaunte Momper wollte wissen, was er damit meine? »Richtige Reisefreiheit«, versicherte
Schabowski, »jeder DDR-Bürger kann reisen, wohin er will. Er kann die DDR auch auf Dauer verlassen.« Die Worte waren wahrlich
dazu angetan, dass sich Walter Momper in der Nacht vom 8. zum 9. November schlaflos im Bett wälzte.
Aber dann war es auch schon 18.00 Uhr. Die Pressekonferenz. Günter Schabowski und zwei Zettel, die ihm Egon Krenz noch kurz
vor der Pressekonferenz zugesteckt hatte: »Gib das bekannt. Das wird ein Knüller für uns.« Und dann, auf den Zwischenruf eines
Journalisten, das historische Wörtchen »sofort«. Dieses eher harmlos klingende Adverb, so ist es im kollektiven Gedächtnis
der Deutschen verhaftet, brachte die Mauer zum Einsturz.
»Deshalb haben wir uns dazu entschlossen«, sagte Günter Schabowski vor den Journalisten, »heute, äh, eine Regelung zu treffen,
die es jedem Bürger der DDR möglich macht, äh, über Grenzübergänge der DDR, äh, auszureisen.«
Dann kam der Zwischenruf aus dem Auditorium. »Wann, ab sofort?«
Günter Schabowski blätterte in seinen Papieren. »Das trifft nach meiner Kenntnis«, sagte er, während er auf seine Unterlagen
blickte, »ist das sofort, unverzüglich.«
Nicht ein DDR-Bürger wäre nach Schabowskis Äußerungen auf die Idee gekommen, zu den Grenzübergängen zu eilen, um zu sehen,
ob er tatsächlich ungehindert in den Westteil der Stadt gehen konnte. Die allermeisten DDR-Bürger hatten kein Visum. Es |270| war nach 18.00 Uhr, die zuständigen Abteilungen Pass- und Meldewesen bei den Kreisämtern der Volkspolizei und die Abteilungen
Innere Angelegenheiten, wo die DDR-Bürger einen Reisepass beantragen konnten, hatten geschlossen. Und diejenigen, die bereits
über einen Reisepass verfügten, hatten keine Eile. Alle anderen aber, die endlich den Westen mit eigenen Augen sehen wollten,
würden sich schon früh am nächsten Tag, am besten noch in der Nacht, vor den Kreisämtern anstellen, damit sie zu den ersten
gehörten, die einen Reisepass beantragen konnten.
Die ›Tagesschau‹ um 20.00 Uhr beginnt mit der Schlagzeile: »DDR öffnet Grenze.« In einem der Berichte heißt es, »die Mauer
soll über Nacht durchlässig werden«. Daraufhin eilen Menschen zu den Grenzübergängen und wollen selbst in Augenschein nehmen,
was sie soeben in den Nachrichten gehört haben. Gegen 21.00 Uhr haben sich am Grenzübergang Bornholmer Straße etwa 1 000 Menschen
versammelt und konfrontieren die Grenzposten mit der aktuellen Nachrichtenlage. Das Wachpersonal weiß von nichts. Jetzt fordern
die Menschen lautstark die Öffnung des Übergangs. Die Situation droht zu eskalieren. Am Telefon schildern die Grenzposten
der zuständigen Stasi-Hauptabteilung eindringlich ihre Lage. Daraufhin kommt die Anweisung, all jene, »die am aufsässigsten
sind und die provokativ in Erscheinung treten« über die Grenze zu lassen. Zuvor werden ihre Personalausweise durch einen speziellen
Vermerk gekennzeichnet, aufgrund dessen ihnen die Rückkehr in die DDR verwehrt werden soll.
Die ›Tagesthemen‹ moderiert Hanns-Joachim Friedrichs. »Guten Abend, meine Damen und Herren«, begrüßt er die Zuschauer um 22.42
Uhr. »Im Umgang mit Superlativen ist Vorsicht geboten, sie nutzen sich leicht ab, aber heute Abend darf man einen riskieren:
Dieser 9. November ist ein historischer Tag. Die DDR hat mitgeteilt, dass ihre Grenzen ab sofort für jedermann geöffnet sind.
Die Tore in der Mauer stehen weit offen.« Eine Live-Schaltung zum Grenzübergang Invalidenstraße zeigt dann auch tatsächlich
Menschenansammlungen auf beiden Seiten des Übergangs, doch das Tor ist wie üblich geschlossen. »Hier«, rechtfertigt sich der
Reporter, »haben die Grenzpolizisten offenbar diese Weisung noch |271| nicht bekommen, oder sie haben sie noch nicht verstanden.« Die Ventillösung, besonders provokativ in Erscheinung tretende
Grenzbesucher in den Westen abzuschieben, dient jetzt als Beleg für die Grenzöffnung. »An sehr vielen Grenzübergängen, nicht
nur in der Bornholmer Straße – wir haben es auch gehört von der Sonnenallee und vom Ausländerübergang Checkpoint Charlie –
ist es offenbar bereits möglich, völlig komplikationslos nach West-Berlin zu kommen.«
Unmittelbar nach der Sendung versammeln sich allein am Grenzübergang Bornholmer Straße mindestens
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