Abbau Ost
hatte in der DDR den gewünschten Erfolg: Das Neue Forum stieg
zum Hauptakteur der Proteste gegen das SED-Regime auf und konnte – ohne die Informationen des Westfernsehens über die Gründung
unvorstellbar – innerhalb weniger Tage Tausende mobilisieren. Die Verbreitung der Existenz des Neuen Forums über die Westmedien
sorgte in vielen Städten der DDR gar für die Gründung von lokalen Gruppen, ohne dass diese vorher Kontakt zu den Gründungsmitgliedern
gehabt hätten. Gleichzeitig verstärkten die westlichen Korrespondenten in der DDR in jedem Bericht das Gefühl, der Protest
sei
noch stärker
als in den Tagen zuvor, die Zahl der Demonstranten – ähnlich wie vorher bei den Flüchtlingen – wäre
noch höher
als in der Woche zuvor, und die einzelnen Schritte der sich entwickelnden Veränderungen seien ›historisch‹ oder ›rekordverdächtig‹.
Diese nur den Gesetzen der Nachrichtenproduktion folgende, zuspitzende Berichterstattung wurde noch ergänzt durch oftmals
den Boden der Legalität verlassende Bemühungen, die Oppositionellen innerhalb und außerhalb der DDR bekannt zu machen, wie
dem Beiwohnen bei illegalen Treffen oder der Bereitstellung von Material für das oppositionelle Schrifttum. Dies erscheint
angesichts der jahrelang gewachsenen Kontakte menschlich verständlich, ist aber dennoch nur schwierig mit journalistischer
Objektivität und der dafür notwendigen Distanz zu vereinbaren. Letztlich wurde aber damit – vermutlich eher unbewusst – der
politisch geprägte öffentlich-rechtliche Auftrag der Förderung der ›Wiedervereinigung Deutschlands in Frieden und Freiheit‹
(ZDF-Staatsvertrag) ausgeführt.«
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|268| Eine Meldung und ihre Geschichte
Es gibt keinen Zweifel darüber, dass Moskau bis Oktober 1990, bis
zum Tag der Vereinigung Deutschlands, immer noch darauf hoffte,
die Bedingungen dieser Vereinigung vorschreiben zu können. Aber
von Anbeginn an verlief alles etwas anders als geplant: Aufgrund
eines bloßen Missverständnisses wurde die Mauer zwischen Ost
und West einen Tag früher geöffnet als vorgesehen. Deshalb verlor
man die Kontrolle über den dadurch ausgelösten Ausreisestrom.
Millionen drängten durch dieses Loch ins Freie und begruben damit
ein für allemal den Mythos von der DDR als einem separaten Staat.
Wladimir Bukowski, sowjetischer Dissident, ›Abrechnung mit Moskau. Das sowjetische Unrechtsregime und die Schuld des Westens‹,
Bergisch-Gladbach 1996
Im Nachhinein stellte sich heraus, die neuen Reisebestimmungen sollten nicht am 9. November, sondern erst am 10. November
1989, um 4.00 Uhr morgens in Kraft treten. Aber was hätte das schon geändert. Für die Anerkennung einer zweiten deutschen
Staatsbürgerschaft war es zu spät. DDR-Bürger waren laut Grundgesetz Bundesbürger und mussten auch so behandelt werden, sobald
sie den Westen Deutschlands betraten. Andererseits wären die Deutschen um diese unvergessliche Novembernacht gebracht worden,
und der Welt wäre verborgen geblieben, zu welchen emotionalen Ausbrüchen sie fähig sind.
Seit jener Nacht hält sich die Legende, Günter Schabowski habe auf der Pressekonferenz am Abend des 9. November 1989 durch
missverständliche Äußerungen die sofortige Grenzöffnung veranlasst, woraufhin sich aufgeregte Menschenmassen an den Grenzübergängen
einfanden, die ratlosen Grenzposten überrumpelten und in den Westteil Berlins drängten. Tatsächlich folgten die Ereignisse
der Dramaturgie des Fernsehens. Wie schon so häufig in den zurückliegenden Monaten hatte sich das öffentlich-rechtliche Fernsehen
auch an jenem 9. November über journalistische Objektivität und Distanz hinweggesetzt. Dazu kam, dass die verantwortlichen
Politiker offenbar so an den Anblick der Mauer gewöhnt waren, dass niemandem in den Sinn kam, dass ein Gesetz, das jedem |269| Bürger die Ausreise garantierte, ein Grenzregime wie die Berliner Mauer überflüssig machte. Aus journalistischer Sicht war
die Schlagzeile nicht Reisefreiheit, sondern das Ende von Mauerschützen und Todesstreifen, der Fall der Mauer. Nicht nur die
SED-Funktionäre, auch der damalige Westberliner Bürgermeister Walter Momper hatte die Auswirkungen eines Reisefreiheitsgesetzes
nicht überblickt. Noch am Vortag führten Günter Schabowski und Walter Momper eine Unterredung, an dessen Ende der SED-Funktionär,
wie Momper später bemerkte, ihm die Pläne zum neuen Reisegesetz »ziemlich unvermittelt«
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