Abbau Ost
Nachwendejahrzehnt
erreichten oder sich durch die anfangs noch großzügigen Ruhestandsregelungen vor Arbeitslosigkeit und prekären Beschäftigungsverhältnissen
retten konnten. Und schließlich gab es jene Begnadeten, die beiden deutschen Gesellschaftsentwürfen das Beste abgewinnen konnten
und das Leben in der DDR nicht weniger genossen haben als das im wiedervereinigten Deutschland. Und doch haben sie alle, ganz
gleich ob erfolgreich und gescheitert, zufrieden oder unzufrieden, ob arbeitslos oder beruflich arriviert, ein ambivalentes
Verhältnis zum deutschen Staat. Ehemalige DDR-Bürger möchten die Wendezeit nicht missen, bedauern aber, dass sie die gerade
gewonnene Freiheit so schnell wieder aufgegeben haben. Sie beklagen den Zerfall der Gesellschaft und ziehen sich ins Private
zurück. Sie verachten den deutschen Beamtenstaat und profitieren zugleich vom öffentlichen Jobwunder. Sie beobachten den Niedergang
der westdeutschen Wirtschaft mit einer gewissen |22| Häme und wünschen zugleich, die Regierung möge die Probleme endlich anpacken und in den Griff bekommen. Sie spüren, dass es
nicht mehr lange so weitergehen kann, und leben doch, als könne es noch ewig dauern.
Ehemalige DDR-Bürger sind die Meister in der Kunst des Verdrängens. In den zurückliegenden Jahren wurde ihnen zu viel zugemutet.
Viele haben unter der ständigen Anspannung zu wenig auf sich selbst und auf ihre Familie geachtet. Einige sind krank geworden,
viele Beziehungen sind zerbrochen. Erst seit einigen Jahren ist so etwas wie eine Besinnung zu spüren, ein Bekenntnis zu vertrauten
Werten. Es werden Klassentreffen organisiert, man interessiert sich wieder dafür, was aus den anderen geworden ist, man knüpft
an schon verloren geglaubte Freundschaften an und holt die alten Schwarzweißfotos aus dem Schrank.
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Sozialisationstheorien
Schon seit dem Fall der Mauer erforschen westdeutsche Sozialwissenschaftler »die Differenzen in den gesellschaftspolitischen
Einstellungen und Wertorientierungen von Ost- und Westdeutschen«. Im Laufe der Jahre haben sich drei Theorien über die Wertvorstellungen
ehemaliger DDR-Bürger herausgebildet, die in Forscherkreisen eine unterschiedliche Wertschätzung genießen. Das begann, unmittelbar
nach Auflösung des zweiten deutschen Staates, mit der Konservierungshypothese, nach der sich in der DDR-Bevölkerung westliche
Wertvorstellungen aus den 50er Jahren konserviert hätten. Befragungen zeigten bei ehemaligen DDR-Bürgern eine strikte Leistungsorientierung
und eine starke Ausrichtung an materiellen Werten. Das wurde keinesfalls negativ bewertet, sondern vielmehr freudig aufgenommen.
Diese 50er-Jahre-Mentalität hatte in Westdeutschland das Wirtschaftswunder ermöglicht.
Mit dem Fortschreiten des Einigungsprozesses mehrten sich Zweifel an der Konservierungshypothese. Es passte nicht ins Bild,
dass ehemalige DDR-Bürger das Leistungsprinzip befürworteten, |23| sich aber andererseits sehr unduldsam gegenüber sozialen Unterschieden zeigten. Ostdeutsche bevorzugten das Gesellschaftsmodell
des demokratischen Sozialismus, in dem soziale Gerechtigkeit und eine direkte Bürgerbeteiligung zentrale Rollen spielten,
während Altbundesbürger eher einem liberalen Demokratiemodell zuneigten, in dem soziale Gerechtigkeit und direkte Bürgerbeteiligung
nicht die Bedeutung erlangten wie in dem von ehemaligen DDR-Bürgern favorisierten Demokratiemodell. In marktwirtschaftlichen
Verhältnissen, forderten die Ostdeutschen, müsse soziale Gerechtigkeit notfalls durch den Staat garantiert werden. Im Westen
sozialisierte Wissenschaftler hielten sie deshalb für Heuchler. Wer das Leistungsprinzip wolle, so die westliche Sichtweise,
müsse sich auch mit sozialen Ungerechtigkeiten abfinden. Für die ehemaligen DDR-Bürger aber bedeutete, und darin lag das deutsch-deutsche
Missverständnis, soziale Gerechtigkeit vor allem Chancengleichheit. Für sie erforderte das Leistungsprinzip einen sportlichen
Maßstab, nämlich gleiche Startbedingungen. Die heute in vielen Studien bewiesene Tatsache, dass über den Werdegang eines Bundesbürgers
nicht seine Leistungen, sondern vor allem seine soziale Herkunft entscheidet, war die prägende Sozialisationserfahrung für
Millionen ehemaliger DDR-Bürger im wiedervereinigten Deutschland. Dazu, wie sie zu sozialen Ungleichheiten stehen, die tatsächlich
aufgrund von Leistungen, also unter gleichen Startbedingungen erworben
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