Abbau Ost
West nicht mittelfristig einander angleichen.« Beide Autoren sind erklärte Anhänger der Sozialisationshypothese, nach
der »die Wertorientierungen der Bürger in den neuen Ländern in einem spezifisch ostdeutschen Sozialisationsprozess erworben
wurden und sich dementsprechend als relativ stabil erweisen«. Die beiden Wissenschaftler sorgen sich, »dass nachwachsende
Generationen wiederum spezifisch ostdeutsche Wertorientierungen erwerben und auf diese Weise ein geschlossenes Milieu entstehen
könnte«. Dann müsste die politische Kultur in Deutschland noch über Jahrzehnte gespalten bleiben, zumal »unsere Ergebnisse
darauf hindeuten, dass bei der demokratischen Sozialisation der jungen Ostdeutschen mit einer niedrigen formalen Bildung erhebliche
Defizite bestehen«. Doch es gibt auch Hoffnung. »Insbesondere ist über alle untersuchten Wertorientierungen |26| hinweg unter den formal hochgebildeten Angehörigen der jüngsten Generation eine fast vollständige Annäherung zwischen Ost
und West zu verzeichnen. Wenn sich der Trend in den nächsten Jahren fortsetzt«, heißt es bei Arzheimer und Klein zusammenfassend,
»wird sich eine gesamtdeutsche politische Kultur nur langsam, nämlich über die Generationenfolge herausbilden.«
Noch gibt es neun Millionen ehemalige DDR-Bürger. Es werden schnell weniger. Im Jahr 2020 werden es gerade noch 5,6 Millionen
sein, um 2039 werden sich die letzten ehemaligen DDR-Bürger aus dem Erwerbsleben verabschieden, und 2063 sind die wenigen
dann noch lebenden, in der DDR sozialisierten Bundesbürger bereits über 90 Jahre alt. Ihr allmähliches Verschwinden ist die
allgemein erwartete und von Wissenschaftlern propagierte Lösung der gesellschaftspolitischen Differenzen zwischen beiden Teilen
Deutschlands.
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Letzte Nachricht von einem verlorenen Volk
Die Weltkonjunktur gegen Ende des zweiten Nachwendejahrzehnts hat Ostdeutschland nie richtig erreicht. Der Westen profitierte,
frühere Ostblockstaaten erstarkten wirtschaftlich und setzten, nach Jahren großer Anstrengungen, auf mehr Lebensqualität,
nur Ostdeutschland hatte keine Perspektive. Aber die Medien verbreiteten gute Stimmung und die Menschen ließen sich nur zu
gern anstecken, zu groß war ihre Sehnsucht nach ein bisschen Normalität. Es floss noch einmal reichlich Geld in die öffentlichen
Kassen des Beitrittsgebiets. Doch das Ende war bereits abzusehen, der Westen hatte den Solidarpakt aufgekündigt. Jahr für
Jahr sollte es weniger zusätzliches Geld geben, bis schließlich gar nichts mehr im Osten ankäme, weder innerdeutsche Solidarzahlungen
noch aus Brüssel überwiesene Sonderförderung. Am schwersten aber wog, dass Ostdeutschland an der Schwelle zum »demografischen
Wandel« stand und sich ein Bevölkerungsrückgang abzeichnete, wie es ihn seit dem Dreißigjährigen Krieg nicht |27| mehr in Mitteleuropa gegeben hat. Nun, da fast eine Generation seit der deutschen Einigung vergangen war, wurde deutlich,
das ein Generationswechsel nicht stattfinden würde, nur wenige rücken nach. Die neue Generation ist zahlenmäßig weit kleiner
als zu DDR-Zeiten geborene Jahrgänge, und sie ist anders. Ihre Sozialisation ist westdeutsch, ihre Orientierung ist westlich,
die Suche nach beruflichen Chancen führt ein Großteil fort aus Ostdeutschland. Die Eltern und Großeltern schauen ihnen nach
und hoffen, dass sie die Kinder hin und wieder besuchen. Kaum jemand glaubt ernsthaft daran, dass sie wieder zurückkommen.
Ihr Fortgang besiegelt das letzte Kapitel der deutschen Einigung. Die Eltern und Großeltern bleiben zurück in einer Region,
wo prekäre Arbeitsverhältnisse nicht die Ausnahme, sondern die Regel sind und ein langer Arbeitsmonat nicht viel mehr einbringt
als das staatlich garantierte Existenzminimum. Sie bleiben zurück in einem Landstrich, wo die Hälfte aller Erwerbsfähigen
auf staatliche Wohlfahrt angewiesen ist, wo jeder Zweite fürchtet, im Alter auf Sozialhilfe angewiesen zu sein. Es ist eine
Region, in der bereits 43 Prozent Rentner leben, wo sich vier von zehn Menschen zum »abgehängten Prekariat« zählen und mit
ausgesprochen heiklen Lebensverhältnissen zurechtkommen müssen (Sozialstudie TNS Infratest vom April 2007). Es ist ein Landstrich,
wo mehr als ein Drittel der Unternehmen von Pflichtbeiträgen für die Industrie und Handelskammer freigestellt sind, wo – wie
in Mecklenburg-Vorpommern – 851 Kommunen gerade mal 270 Millionen
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