Abbau Ost
werden, hat die Ostdeutschen bislang nie ein Soziologe
befragt.
Dennoch war dieses Missverständnis die Geburtsstunde der Sozialisationstheorie. Die mangelnde Integrationsfähigkeit der Ostdeutschen
wurde aus ihrer DDR-typischen Sozialisation erklärt, dort erworbene Wertorientierungen würden sich auch im vereinigten Deutschland
als außerordentlich beständig erweisen. Die offizielle politische Zielkultur des SED-Regimes habe den DDR-Bürgern eigentümliche
Orientierungen vermittelt, in denen sich Werte wie Wirtschaftswachstum, Leistungsprinzip und Aufstiegsorientierung mit einer
dazu im Widerspruch stehenden egalitären Gesellschaft verbinden würden. Diese Wertvorstellungen ließen sich auch heute noch
bei ehemaligen DDR-Bürgern nachweisen, |24| weshalb daraus auf erfolgreiche Sozialisationsbemühungen des SED-Regimes geschlossen werden müsse.
Bis heute ist die Sozialisationshypothese die bestimmende Betrachtungsweise in wissenschaftlichen Publikationen. Gäbe es noch
eine weitere, ostdeutsche Sichtweise, so würde sie sicher besagen, dass sich Ost- und Westdeutsche in ihren Wertvorstellungen
nur wenig unterscheiden, wohl aber in ihren Erfahrungen mit zwei deutschen Gesellschaftsentwürfen und den Möglichkeiten ihrer
Teilhabe im wiedervereinigten Deutschland. Neuere Forschungen untermalen dieses Bild. Untersuchungen der Verwaltungshochschule
Speyer, bei denen Bürger nach ihren Orientierungen befragt und fünf sogenannten speyerischen Wertetypen zugeordnet wurden
(vorrangig traditionell orientierte Menschen, Idealisten, hedonistisch und materiell Orientierte, aktive Realisten und perspektivlos
Resignierte), hat sich gezeigt, dass es unter ehemaligen DDR-Bürgern einen besonders hohen Anteil aktiver Realisten gibt.
Dieser Wertetyp gilt als der zukunftsfähigste überhaupt. »Aktive Realisten«, schreibt der Speyerer Soziologieprofessor Helmut
Klages in seinem 2001 erschienenen Aufsatz ›Brauchen wir eine Rückkehr zu traditionellen Werten?‹, »sind auf eine konstruktiv-kritikfähige
und flexible Weise institutionenorientiert und haben verhältnismäßig wenig Schwierigkeiten, sich in einer vom schnellen Wandel
geprägten Gesellschaft zielbewusst und mit hoher Selbstsicherheit zu bewegen. Mit allen diesen Eigenschaften nähern sie sich
am ehesten dem Sollprofil menschlicher Handlungsfähigkeiten unter den Bedingungen moderner Gesellschaften an.« Eine derartige,
marktwirtschaftliche Verhältnisse bejahende Wertorientierung erfordert eine geringe Frustrationsanfälligkeit gegenüber gesellschaftlichen
Veränderungen. Die vom Lehrstuhl für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Technischen Universität Dresden im Jahr
2003 veröffentlichte Vergleichsstudie ›Seelische Gesundheit in Ost und West‹ stellt ehemaligen DDR-Bürgern auch in dieser
Hinsicht gute Noten aus. »Entgegen früherer Befunde«, heißt es dort zusammenfassend, »treten psychische Störungen im Gebiet
der früheren DDR seltener auf als in Westdeutschland. Auf einer individuellen Ebene, |25| auf der sich letztlich psychische Störungen manifestieren, wirken Einwohner der neuen Bundesländer eher robuster.« Auch wenn
der Osten inzwischen aufgeholt hat, spielen Drogen im neuen Bundesgebiet immer noch eine geringere Rolle, wobei Alkohol eine
Ausnahme bildet. Die Autoren Frank Jacobi, Jürgen Hoyer und Hans-Ulrich Wittchen rätseln in der Studie, dass »Alkoholstörungen
trotz höherer Raten gesundheitsschädlichen Konsums im Osten seltener sind«, und vermuten, »ob vielleicht geselliges Trinken
verbreiteter, einsames (funktionales) Trinken aber seltener ist. Eine Erklärung zugunsten der neuen Bundesländer, dass Konkurrenz,
Neid und die Neigung zum sozialen Vergleich für den Osten vielleicht doch weniger charakteristisch sind.«
Nicht alle Zumutungen konnten ehemalige DDR-Bürger durch »geselliges Trinken« kompensieren. Kaum zu verkraften waren die Aussagen
von Kai Arzheimer, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft der Universität Mainz, und von Markus
Klein, Volkswirt und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Zentralarchiv für empirische Sozialforschung an der Universität Köln.
In ihrem viel beachteten Aufsatz ›Gesellschaftspolitische Wertorientierungen und Staatszielvorstellungen im Ost-West-Vergleich‹
warnen sie, »dass das politische System zunehmend unter Stress geraten wird, sollten sich die politischen Orientierungen in
Ost und
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