Abbau Ost
leistungsschwache Schüler beendeten die Schullaufbahn mit dem Abschluss der 8.
Klasse und begannen eine Lehre. Die schulische Ausbildung war auf individuelle |174| Förderung angelegt, es sollte möglichst kein Schüler zurückgelassen werden. Lehrer förderten Lernpatenschaften, in denen gute
Schüler schwächere unterstützten, ihnen bei den Hausaufgaben halfen, bei der Vorbereitung auf Klassenarbeiten oder anstehende
Prüfungen. Ein solches Bildungssystem forderte den Beteiligten Kompromisse ab, die nicht von allen gutgeheißen wurden.
Die Verantwortlichen in Mecklenburg-Vorpommern entschieden sich für das konservativste aller westdeutschen Schulsysteme, die
in dieser radikalen Form nur in Bayern praktizierte sogenannte Dreigliedrigkeit. Die Kinder gehen nur noch vier Jahre gemeinsam
zur Schule. Bereits im vierten Schuljahr, die Kleinen sind dann zehn oder elf Jahre alt, muss für jedes Kind die Entscheidung
für eine der drei Schulformen – Hauptschule, Realschule oder Gymnasium – getroffen werden. Dieses Schulsystem setzt nicht
auf individuelle Förderung und sozialen Zusammenhalt, sondern auf eine gestrenge Selektion, bei der ein beträchtlicher Anteil
junger Menschen gänzlich aussortiert wird und die Schulzeit nach neun Pflichtschuljahren ohne Abschluss beendet. Dabei gestaltet
Bayern, das sich seiner vergleichsweise hohen Bildungsstandards rühmt, den Durchlass zu den höheren Bildungsgängen besonders
eng. Das süddeutsche Bundesland muss akademisch gebildeten Nachwuchs aus anderen Regionen der Republik oder aus dem Ausland
importieren. Müsste Bayern von der Wirtschaft gesuchte Studienabsolventen ausschließlich aus dem eigenen Bildungssystem rekrutieren,
blieben viele der anspruchsvollsten am besten bezahlten Stellen unbesetzt.
Mit riesigem Aufwand und großen Zumutungen für Schüler und Lehrer wurde das überschaubare Gefüge von Oberschulen und Erweiterten
Oberschulen zerschlagen und mit Grundschulen, Hauptschulen, Realschulen, Gymnasien und Gesamtschulen Strukturen geschaffen,
die eine selektive Auswahl der Kinder ermöglichten. Der Bruch mit dem Schulsystem der DDR war nie wirklich begründet worden.
Kultusminister Wutzke argumentierte, dass es große Gemeinsamkeiten in der Mentalität der Bayern und der Menschen in Mecklenburg-Vorpommern
gebe und Bayern |175| nach dem Kriege, damals noch sehr landwirtschaftlich geprägt, vor ganz ähnlichen Problemen gestanden habe wie heute Mecklenburg-Vorpommern.
Unter vorgehaltener Hand erzählte man sich allerdings, die Übernahme des bayerischen Schulsystems hinge damit zusammen, dass
der für die Schulverwaltung verantwortliche Ministerialbeamte aus Bayern stamme.
Seit dem Beginn der Umgestaltung sind Schüler und Lehrer in Mecklenburg-Vorpommern nicht wieder zur Ruhe gekommen. Wegen der
damals schon vorhersehbaren Abnahme der Schülerzahlen erwiesen sich derart viele Schulformen, die klar voneinander getrennt
und möglichst in verschiedenen Schulgebäuden untergebracht sein sollen, in dem nur dünn besiedelten Bundesland als viel zu
kostspielig. Ständig wurde nachgebessert, wobei sich die Strukturen inzwischen wieder ganz allmählich denen zu DDR-Zeiten
annähern. Es wird nicht erkennbar, dass die Schüler durch das neue System gewonnen hätten. Lehrer berichten übereinstimmend,
das Leistungsniveau sei heute spürbar gesunken. Ob es sich nur um einen subjektiven oder wirklich fundierten Eindruck handelt,
ließe sich leicht überprüfen, indem Lehrer noch einmal Prüfungsfragen naturwissenschaftlicher Fächer, wie sie Oberschülern
und Abiturienten zu DDR-Zeiten abgefordert wurden, Realschülern und Gymnasiasten vorlegen.
Über Ziele und Inhalte der Schule wurde nur wenig geredet – abgesehen davon, dass sich Oswald Wutzke leidenschaftlich für
die schnelle Einführung des Religionsunterrichts einsetzte. Ansonsten ging es immer nur um Verwaltungsstrukturen und Planstellen
und nicht um die Kinder. Es werden ohnehin von Jahr zu Jahr weniger, die im Spätsommer mit einem neuen Schulranzen und einer
Schultüte zum ersten Mal auf den Schulhöfen stehen, zum ersten Mal in ihr Klassenzimmer gehen und aufgeregt und wissbegierig
den Worten ihrer Lehrerin lauschen. Sie alle haben das Zeug zu etwas ganz Besonderem. Schon in den ersten Jahren wird sich
entscheiden, ob sie ihre Neugier behalten oder irgendwann nur noch gelangweilt und frustriert in die Schule gehen. Allein
in Ostdeutschland erwartet
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