Abbild des Todes
“Also hör auf, dir Sorgen zu machen.”
Die Gedanken daran hoben Zoes Laune. Sie fühlte sich jetzt besser und schlüpfte aus ihrem Mantel. Als sie ihn an die Garderobe hängte, unterdrückte sie den Drang, den ruinierten Absatz noch einmal herauszuholen und einen genaueren Blick darauf zu werfen. Noch mehr Ärger konnte sie jetzt wirklich nicht gebrauchen. Wenn sie Glück hatte, würde Lizzys Onkel, der Schuhmacher, ihn retten können.
Auf Socken ging sie hinüber zum Kühlschrank und nahm sich eine Flasche Wasser heraus, bevor sie sich mit einem zufriedenen Seufzer in einen der Sessel im Wohnzimmer fallen ließ. Die Füße auf den Couchtisch gelegt, freute sie sich darüber, dass sie sich keine Gedanken über neugierige Nachbarn machen musste. Das Gebäude gegenüber war zwar hell erleuchtet, aber um diese Tageszeit arbeitete niemand mehr in den Büros.
Bevor sie einen Schluck Wasser trinken konnte, klingelte ihr Telefon.
“Zoe, ich bin‘s, E.J. Die Frau, die du beschrieben hast, ist keine unserer Angestellten. Maureen hatte die beiden neuen Schreibkräfte zur Feier eingeladen, aber beide hatten wegen anderer Verabredungen abgesagt.”
Zoe freute sich für E.J. Er hatte hart dafür gearbeitet, den
Herald
zu einer erfolgreichen Zeitung zu machen, und trotz der Millionen, die er aus seinem Privatvermögen immer wieder eingebracht hatte, war er zweimal nur knapp dem Konkurs entkommen. Es war nur zu verständlich, dass er sich jetzt, wo der
Herald
langsam richtiges Geld einbrachte, Sorgen über mögliche Negativschlagzeilen machte.
“Das sind doch fabelhafte Neuigkeiten, E.J.”
“Wir sprechen dann am Montag, Kleines. Schlaf dich erst einmal aus.”
Nachdem sie aufgelegt hatte, wanderten Zoes Gedanken zurück zu den Ereignissen der letzten Stunden. Sie stimmte den beiden Beamten nur ungern zu, aber es konnte tatsächlich sein, dass die Frau einfach eine Weihnachtsfeier besucht hatte, so wie Zoe. Und es konnte ebenso sein, dass sie zu viel getrunken hatte, wie so viele. Doch damit endeten ihre Zugeständnisse an die Geschichte. So sehr sie sich anstrengte, sie konnte sich nicht vorstellen, dass diese Frau sich entschlossen hatte, in einer dreckigen Seitenstraße ihren Rausch auszuschlafen. Sie hatte ganz und gar nicht ausgesehen wie jemand, der so etwas tat. Irgendwer hatte ihr in der Gasse aufgelauert und sie getötet. Oder sie war aus einem Fenster gestoßen worden. Aber aus welchem? Die ersten zehn Stockwerke gehörten dem
Herald
, die anderen sechs waren an drei andere Firmen vermietet, die aber wie immer pünktlich um fünf Uhr Feierabend gemacht hatten.
Vollkommen konzentriert schürzte sie die Lippen, stand auf und ging hinüber zu ihrem Zeichenbrett. Der letzte Fall von Kitty Floyd war gerade fertig, und Zoe arbeitete bereits an der nächsten Serie, die den Fans am Montag vorgestellt werden würde. Außer ein paar letzten Korrekturen hier und da waren die vier ersten Bilder fertig, um zur Zeitung geschickt zu werden.
Vor etwas mehr als einem Jahr hatte Zoe Kitty Floyd erfunden und gehofft, dass der Comic einen festen Platz in einer Zeitung erhalten würde, damit sie ihren schlecht bezahlten Job als Kinderbuchillustratorin aufgeben konnte. Unglücklicherweise waren die Zeitungen nicht gerade versessen darauf gewesen, einer unbekannten Cartoonistin einen festen Vertrag zu geben, egal, wie talentiert sie auch sein mochte. Nur ein Herausgeber, E.J. Greenfield vom
New York Herald
, war von Kitty Floyd so begeistert gewesen, dass er es mit Zoe hatte versuchen wollen.
Zwölf Monate später hatte sich die unerschrockene Privatdetektivin, die in New York lebte und arbeitete, zum Liebling aller fünf Stadtbezirke gemausert. Und auch wenn die anderen Verlage noch nicht vor Zoes Tür Schlange standen, war sie glücklich darüber, endlich das tun zu können, was ihr am meisten Spaß machte – Kitty Floyd in brenzlige Situationen zu bringen.
Zoe nahm sich nicht die Zeit, sich erst hinzusetzen, sondern griff direkt zu ihrem Stift. Sie nahm den Rapidograph – ihren feinen Tuschefüller, den sie einem Pinsel jederzeit vorzog – in die Hand und begann sofort, das Gesicht der toten Frau zu zeichnen. Sie benötigte einige Minuten und drei Versuche, um es richtig hinzubekommen, aber als die Zeichnung schließlich fertig war, wies sie eine erstaunliche Ähnlichkeit mit der Frau in der Seitenstraße auf. Unter die Zeichnung schrieb sie: “Der
New York Herald
benötigt Ihre Hilfe, um diese Frau zu finden. Wenn
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