Abby Lyne 01 - Verbannt ans Ende der Welt
einem gierigen Ausdruck in den Augen an und fragte: »Hast du vielleicht noch ein paar Münzen, Täubchen?
Dann kannst du Puder und sogar Duftwasser haben. Na, wie steht’s damit?«
»Nicht einen Penny habe ich«, sagte Abby, splitternackt und zitternd vor Kälte. Einen ihrer kostbaren Pennys für so etwas zu opfern, wäre ihr vielleicht zu Beginn ihrer Einkerkerung noch in den Sinn gekommen. Jetzt jedoch erschien ihr dieser Gedanke so absurd wie ein voll gedeckter Tisch in der finsteren Zelle, in der sie die ersten Tage verbracht hatte.
Sarah seufzte enttäuscht und zuckte mit den Achseln. »Na, dann wirst du dich eben mit Essig begnügen müssen«, brummte sie, hob die Flasche hoch und goss die Blechschüssel auf dem Tisch halb voll. Sie tunkte einen löchrigen Lappen, der alles andere als blütenrein war, in die Flüssigkeit und begann Abby abzuwaschen.
»Die Prozedur ist nicht gerade so angenehm wie Daunenfedern am Hintern, aber auch kein Grund zum Jammern! Also reiß dich zusammen, sonst lernst du mich von meiner unfreundlichen Seite kennen, Täubchen!«, drohte sie, als Abby beim ersten Brennen unwillkürlich zusammenzuckte und einen unterdrückten Laut des Schmerzes von sich gab.
»Es wird nicht wieder vorkommen!«, versicherte Abby mit gepresster Stimme und biss die Zähne zusammen. Die Wärtersfrau ging nicht gerade zart mit ihr um. Der essiggetränkte Lappen klatschte immer wieder wie ein schmerzhafter Peitschenschlag auf ihren Leib. Sie nahm auch keine Rücksicht auf Kratzwunden, in denen der Essig wie Feuer brannte. Dazu kam, dass der Essig ihr so stechend scharf in die Nase stieg, dass ihr davon beinahe übel wurde. Schließlich atmete sie nur noch durch den Mund.
Endlich hatte die raue, lieblose Prozedur ein Ende. »So, das muss genügen!« Sarah Putney ließ den Lappen achtlos zu Boden fallen. »Du kannst dich wieder anziehen.«
Hastig zog Abby Unterrock und Mieder an, während die Wärtersfrau ihr Kleid und den Umhang oberflächlich mit einer groben Bürste bearbeitete. Anschließend spritzte sie auch noch ein wenig Essig auf die Sachen.
»Keiner soll mir nachsagen können, ich hätt dich nicht fein rausgeputzt, mein Täubchen«, sagte sie spöttisch und schob sie aus der Kammer in den Gang, wo ihr Mann schon wartete. »Du riechst jetzt so verführerisch wie ‘n Fass Essiggurken!«
Abby kämpfte gegen die Demütigung an, die ihr die Tränen in die Augen schießen ließ. Man hatte sie wie ein Stück Vieh behandelt, dem man den gröbsten Dreck abschrubbte, bevor man es zur Schlachtbank führte.
Ihr Prozess fand im Old Bailey, dem obersten Strafgerichtshof, statt und war nur einer von vielen, die an diesem Vormittag im Schnellverfahren verhandelt wurden. Es waren Fälle, die nach Ansicht der Justiz keiner zeitraubenden Verhandlung bedurften. Verbrecher, die ihre Tat gestanden hatten oder auf Grund der Beweislage als überführt gelten konnten. Fast allen drohte die Todesstrafe, denn schon der Diebstahl eines Gegenstandes, der mehr als einen Shilling wert war, galt als Kapitalverbrechen – und als Fall für den Henker.
Auf den Zuschauerbänken drängte sich bis auf wenige Ausnahmen sensationslüsternes Volk. Strafprozesse waren fast so beliebt wie öffentliche Hinrichtungen, die der Londoner Pöbel stets zu jahrmarktähnlichen Volksbelustigungen mit Ausschweifungen aller Art entgleiten ließ.
Der hagere Richter, dessen gepuderte Perücke ein stumpfes Mehlweiß aufwies, hatte sich nicht darauf verlassen, dass die Angeklagten den Pesthauch von Newgate nicht in den Gerichtssaal bringen würden. Er hatte vorgesorgt. Ein großer Blumenstrauß lag vor ihm auf dem Pult. Der Strauß war nicht nach farbharmonischen Gesichtspunkten zusammengestellt, sondern nach der Intensität der Blumendüfte. Es fanden sich nur solche Blumen im Strauß, die einen starken Duft verströmten. In diesen Strauß steckte er ab und zu seine Nase.
Auch die Geschworenen saßen nicht unvorbereitet auf den Bänken. Ihnen standen zwar nicht die Duftvielfalt eines bunten Blumenstraußes zur Verfügung, doch ein parfümgetränktes Taschentuch, das immer wieder zur Nase geführt wurde, tat den gleichen Dienst.
Abby bekam davon kaum etwas mit, als man sie unter dem Geraune und den neugierigen Blicken der Schaulustigen in den Saal führte. Wie eine Lawine stürzten die Eindrücke auf sie ein.
Dumpfe Angst und Beklemmung erfassten sie. Ihr war, als würde sie in eine gähnende Leere stürzen.
Man zeigte mit Fingern auf sie.
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