Abby Lyne 01 - Verbannt ans Ende der Welt
behalten wollte. Du hast in den drei Monaten offenbar mehr gelernt als andere in drei Jahren.
Oder warst du schon so ausgekocht, bevor du Newgate von innen kennen gelernt hast?«
Abby kam nicht mehr dazu, ihr darauf zu antworten. Sie waren in der Schlange der zusammengeketteten Gefangenen vorgerückt. Ein Wärter stieß ihr seinen Schlagstock in den Rücken. »Siehst du nicht, dass der Wagen voll ist? Los, rüber zum nächsten! Und ein bisschen Beeilung!«, herrschte er sie an.
Auch Rachel erhielt einen Hieb, der sie an der Hüfte traf und vorwärts taumeln ließ. »Gegen diese geifernden Kerle ist der Henker geradezu ein barmherziger Samariter!«, stieß sie verächtlich hervor, als sie sich beeilten, dem Befehl des Wärters nachzukommen.
Es war gar nicht so einfach, gemeinsam und mit der schweren Kette am Bein in den Kastenwagen zu klettern. Eine dünne Lage Stroh bedeckte den Boden. Sie waren in diesem Wagen die Ersten und mussten sich deshalb ganz hinten in die Ecke setzen.
Im Handumdrehen war der fensterlose Verschlag so voll, dass man Platzangst bekommen konnte. Abby vermochte noch nicht mal ihre Beine auszustrecken.
»Hätte nie gedacht, dass ich mal Sehnsucht nach meiner dreckigen Zelle haben würde«, meinte Rachel neben ihr und fand Zustimmung bei den anderen Frauen, die mit ihnen in dem Wagen eingepfercht waren.
»Pest und Pocken über diese Henkersknechte!«, fluchte eine der Frauen im Dunkel, als die Türen zugeknallt und von außen verriegelt wurden. Das wenige Licht, das hier und da durch einen winzigen Spalt zwischen den Brettern ins Wageninnere fiel, reichte noch nicht mal aus, um von vorn nach hinten zu schauen und dabei ein Gesicht zu erkennen. Nur die schemenhaften Umrisse der am Boden kauernden Gestalten waren zu erkennen wie graue Schatten in einer mondlosen Nacht. »Da ist mir meine Zelle ja noch zehnmal lieber, ‘n wahrer Ballsaal war das stinkende Loch gegen diesen Brettersarg auf Rädern! Der Schlag soll die Bastarde treffen, die sich diese Teufelei ausgedacht haben!«
»Wenn’s einen trifft, dann werden wir das sein!«, antwortete ihr eine andere Stimme brüsk. »Die Zunge soll mir verdorren, wenn auch nur die Hälfte von uns Portsmouth lebend zu sehen kriegt!«
»Halt dein lästerliches Maul, Tilly! Wir haben schon so genug zu ertragen«, wies sie jemand, der vorn bei den Türen saß, ungehalten zurecht.
»Wir werden hier krepieren wie die Ratten in ‘ner Lattenkiste«, bekräftigte die Frau ihre düstere Prophezeiung. »Ihr werdet noch an meine Worte denken … wenn ihr zu denen gehört, die diese Fahrt überleben!«
So schrecklich wurde die Fahrt nach Portsmouth nun doch nicht, wenn sie auch schlimm genug war. Die qualvolle Enge machte den tagelangen Transport zu einer menschenunwürdigen Tortur. Jedes noch so intimste menschliche Bedürfnis musste schlimmer noch als in der Zelle in aller Öffentlichkeit und unter hautenger Tuchfühlung mit den anderen Leidensgefährten um einen herum verrichtet werden. Und wenn das Dunkel diese Entwürdigung den Augen auch gnädigerweise verbarg, so änderte das doch nichts an der Tatsache, dass alle anderen Sinne jede kleinste Regung des Mitgefangenen registrierten. So blieb nichts wirklich verborgen. Die Luft im geschlossenen Kastenwagen war dementsprechend entsetzlich. Es stank schon nach wenigen Stunden bestialisch nach Körperausdünstungen, Exkrementen und Erbrochenem.
Wo die Wagen auf ihrem Weg nach Portsmouth vorbeikamen, wandten sich die Menschen entlang des Weges voller Ekel ab und hielten sich die Nase zu. Und stoppte der Sträflingstransport in einem Dorf, bekamen Fahrer und Wachmannschaften Schmähungen und Drohungen zu hören, wenn sie die Pferde am Marktbrunnen tränken oder eine Rast in der Wirtschaft einer Poststation einlegen wollten. Sie mussten schon außerhalb lagern.
Niemand wollte mit dem menschlichen Abschaum aus London etwas zu tun haben. Und schickte man sie nicht deshalb auch in diese ferne Kolonie der Verbannten?
Neuntes Kapitel
Abby döste vor sich hin, den Kopf an Rachels Schulter gelehnt. Ihr Körper verlangte nach Schlaf, nachdem sie in der Nacht kaum ein Auge zugetan hatte. Der Wagentross hatte irgendwo im Freien campiert. Das Wetter war umgeschlagen.
Ein Kälteeinbruch hatte die milden Temperaturen jäh absinken lassen und der Nachtfrost war durch alle Ritzen in den Wagen gedrungen.
Sie hatten sich im feuchten, stinkenden Stroh aneinander gedrängt, um sich gegenseitig zu wärmen. Geschlafen
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