Abby Lyne 01 - Verbannt ans Ende der Welt
der Frühling den Winter endgültig abgelöst hatte, hatte auch Abby sich gewandelt. Sie hatte in den Monaten viel Elend, Grausamkeiten und Tote gesehen. Und sie war hart geworden, ohne jedoch die Menschenverachtung und Gefühllosigkeit angenommen zu haben. Sie hatte gelernt, sich keinem Einschüchterungsversuch ihrer Mitgefangenen zu beugen und sich zu behaupten. Mit Geschick, Furchtlosigkeit, Diplomatie und notfalls auch mit Gewalt.
Dann kam der Tag im Mai, als Philip Putney sie schon früh am Morgen aus der Zelle holte. »Los, raus mit dir!«, forderte er sie schroff auf.
»Besuch?«, fragte Abby verwundert, als sie dem riesenhaften Wärter über den Gang folgte. Frederick war erst vor fünf Tagen da gewesen.
»Nein. Heute kommst du vor Gericht«, beschied Putney sie mürrisch. Er war an diesem Morgen übellaunig. »Und jetzt halt den Mund!«
Abby hatte all die Wochen auf diesen Tag gewartet. Sie hatte davon geträumt und sich an die Hoffnung geklammert, einen fairen Prozess zu bekommen und vor Richter und Geschworenen doch noch ihre Unschuld beweisen zu können. Doch nun, da der Tag gekommen war, wich alle Hoffnung von ihr und machte furchtsamer Beklemmung Platz. Sie konnte nur noch an das denken, was Frederick ihr bei seinem ersten Besuch mit schonungsloser Offenheit prophezeit hatte: Ob sie schuldig war oder nicht, eine Verurteilung sei ihr gewiss!
Philip Putney öffnete die Tür zu einer Kammer, stieß Abby unsanft hinein und rief verdrossen: »Hier ist sie, Frau! Mach sie zurecht. Aber sieh zu, dass du schnell mit ihr fertig wirst. Sie muss gleich ins Old Bailey!«
Sarah Putney war eine kräftige, schwergewichtige Frau mit einem breitflächigen Gesicht, das fleckig war von Pockennarben. Sie stand ihrem Mann in nichts nach, was ihre Gleichgültigkeit gegenüber dem Elend von Newgate betraf. Es war ihr Alltag, ihr Beruf, der ihr ein bescheidenes Einkommen sicherte. Und sie konnte genauso derb zupacken und unflätige Reden führen wir er.
Jetzt stemmte sie ihre schwieligen Hände in die breiten Hüften. Und barsch fuhr sie ihren Mann an: »Willst du mir sagen, wie ich meine Arbeit zu tun habe, Philip Putney?«
»Du sollst sie präsentabel machen und dich damit beeilen, verdammt noch mal! Das ist alles, was ich zu sagen habe!«, grollte ihr Mann gereizt. »Wenn du zu schlampig bist, muss ja ich den Kopf dafür hinhalten, nicht du!«
Sie spuckte auf den Boden. »Pah! Als ob ich nicht weiß, was die Herren mit ihren empfindlichen Nasen erwarten! Also verschwinde und kümmere dich um deinen eigenen Dreck. Du stiehlst mir nur die Zeit!«
Der Wärter funkelte sie wütend an. »Der Teufel soll dich holen, Weib!«, fluchte er und zog die Tür mit einem lauten Knall hinter sich zu.
Sarah musterte Abby mit gerümpfter Nase. »Der Teufel soll mich in der Tat holen, wenn ich mit dir nicht ‘n verdammtes Stück Arbeit habe, Täubchen!«, sagte sie grimmig. »Zieh dich aus!«
Abby sah sie verständnislos an.
»Hast du nicht gehört?«, fuhr Sarah Putney sie ungehalten an. »Du sollst dich ausziehen, und zwar ein bisschen flott, mein Täubchen! Sonst helfe ich dir auf die Sprünge!«
»Aber warum?«
»Weil du so stinkst, als hätte man dich aus der übelsten Kloake von London gezogen, Täubchen! Du riechst es vielleicht nicht mehr, aber der Richter und die Geschworenen werden von deinem Gestank in Ohnmacht fallen, wenn man dich so in den Gerichtssaal lässt.«
Abby wurde vor Scham hochrot im Gesicht und blickte an sich hinunter. Sie hatte in den vergangenen drei Monaten, so gut es ging, versucht ihre Kleider sauber zu halten. Doch natürlich war es ein hoffnungsloses Unterfangen gewesen. Eine Zelle in Newgate war nun mal kein Pensionszimmer, sondern ein zum Himmel stinkendes Dreckloch. Sie hatte diese Kleider zudem Tag und Nacht getragen, weil sie keine anderen hatte.
Und zum Waschen gab es keine Möglichkeit. Ja, sie war dreckig und stank.
»Nimm’s dir nicht zu Herzen. Egal, wo sie herkommen, Täubchen, hier stinken sie alle. Ob Dame oder Dirne. Ob Gassenjunge oder Gentleman. Nur vor Gericht, da darf der Gestank von Newgate nicht die Herren Perückenträger beim Rechtsprechen stören!« Sie lachte kurz und freudlos.
Zögernd begann sich Abby zu entkleiden. Eine Gänsehaut bildete sich auf ihrem mageren Körper.
Sarah Putney griff zu einer binsenumwickelten, bauchigen Flasche, die neben dem Fuß des klobigen Tisches stand. Doch mitten in der Bewegung hielt sie inne, blickte Abby mit geneigtem Kopf und
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