Abby Lyne 01 - Verbannt ans Ende der Welt
Frauen in den Gefängnishof führte. Eine lange Reihe geschlossener Kastenwagen stand zum Abtransport der Sträflinge bereit. Erstes Sonnenlicht fiel über die Mauer und ließ das Fell so manch eines Zugpferdes seidig glänzen.
Die Frauen hatten dafür jedoch keinen Blick. Die rauen barschen Stimmen der Wärter und der Wachmannschaften vermischten sich auf dem Hof zu einem wüsten Gebrüll. Ketten klirrten. Pferde schnaubten unruhig.
Vier Frauen hatten schreiende Kleinkinder auf dem Arm, die im Gefängnis zur Welt gekommen waren und bisher wundersamerweise überlebt hatten. Die Begleitmannschaften drängten zur Eile. Bis nach Portsmouth in der Grafschaft Hampshire war es ein langer Weg. Schon mit der schnellen Postkutsche war die Strecke nicht unter zwei Tagen zurückzulegen. Die plumpen, schwer beladenen Kastenwagen würden noch bedeutend länger unterwegs sein. Zumal sie auf der Fahrt immer zusammenbleiben mussten, damit die Wachmannschaft leichtere Arbeit hatte. Somit würde das schwächste Gespann das Tempo des ganzen Trosses angeben.
»Los! … Bewegt euch, faules Pack! … Ihr seid hier nicht auf einem Picknick-Ausflug in den Hyde Park! … Vorwärts, oder wir machen euch Beine, dreckiges Gesindel!«, brüllten die Wärter und teilten schmerzhafte Stöße und Hiebe aus, als einige der Sträflinge sich widerspenstig zeigten und mit hasserfüllten Verwünschungen auf die Befehle der Wärter antworteten.
Die Wäscherin Celia und Nellie, die Einbrecherin, befanden sich auch unter den Frauen. Abby wurde in dem Gedränge jedoch von ihnen getrennt, was sie nicht bedauerte. Mit diesen beiden kaltschnäuzigen Sträflingen hatte sie nichts weiter als dasselbe Strafmaß gemein: sieben Jahre Verbannung nach New South Wales.
»Na, kommt schon, ihr Schönen! Holt euch euren reizenden Beinschmuck ab!«, höhnte der Wärter, der immer zwei Sträflinge mit einer schweren Eisenkette am Fußgelenk zusammenschloss, sodass an Flucht nicht zu denken war.
Bevor Abby wusste, wie ihr geschah, war sie mit einer Frau zusammengekettet, die sie während ihres Gefängnisaufenthaltes noch nie gesehen hatte. Hager wie sie alle, hielt sie sich im Gegensatz zu vielen anderen jedoch aufrecht, als wollte sie schon durch ihre äußere Haltung zum Ausdruck bringen, dass nichts ihren Stolz brechen konnte. Strähniges Haar fiel ihr ins Gesicht, das trotz einer langen Narbe über dem rechten Auge auf eine herbe Art anziehend wirkte. Ihr Alter war schwer zu schätzen. Doch älter als Anfang zwanzig konnte sie kaum sein, denn die Haut um Augen und Mund war noch glatt und straff.
»Sieht so aus, als müssten wir ein paar Tage miteinander auskommen«, sagte sie spöttisch und musterte ihre Mitgefangene kurz. »Na ja, schaust ganz passabel aus, Kleine. Hätte es wohl schlechter treffen können, als mit dir an einer Kette zu liegen.«
»Wir werden uns bestimmt vertragen«, meinte Abby.
»Bisher bin ich noch mit keinem ausgekommen, Kleine.
Aber wenn wir Portsmouth erreichen, ohne dass wir uns gegenseitig die Augen ausgekratzt haben, will ich zufrieden sein. Na, wir werden sehen«, entgegnete sie schnell und mit unverhohlenem Misstrauen. »Aber wo wir nun schon mal keinen Schritt ohne den anderen tun können, kann es nicht schaden, einander beim Namen zu nennen. Also, auf welchen Namen hörst du?«
»Abby Lynn. Und wie heißt du?«
»Rachel Blake.«
»Bist du schon lange in Newgate?«, fragte Abby.
»Was geht dich das an?«, fragte Rachel zurück. Ihre Stimme hatte nichts Feindseliges an sich, sondern klang auf unpersönliche Art abweisend kühl. »Meinen Namen zu kennen gibt dir noch lange nicht das Recht, mich mit Fragen zu löchern.«
»Gut, es geht mich nichts an«, räumte Abby ein und zuckte mit den Achseln. »Aber ich sehe auch keinen Grund, warum ich verschweigen sollte, dass ich drei Monate in Newgate eingekerkert war.«
»Drei Monate!«, wiederholte Rachel geringschätzig. »Pah! Da hast du ja noch nicht mal Zeit gehabt, die Gitterstäbe deiner Zelle in aller Ruhe zu zählen!«
»Aber du, wie?«, sagte Abby herausfordernd.
»Ein bisschen mehr Zeit als du hatte ich bestimmt! Für mich war das der dritte Winter, den ich in diesem Pestloch überstanden habe … Gott allein mag wissen, wie!«
Abby lächelte kaum merklich.
Rachel furchte die Stirn, als sie das Lächeln bei ihr bemerkte.
»Schau an, kaum den Kinderschuhen entwachsen und doch schon gerissen genug, einem Antworten aus der Nase zu ziehen, die man eigentlich für sich
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