Abby Lyne 01 - Verbannt ans Ende der Welt
Jemand lachte schadenfroh, und ganz deutlich hörte sie eine kratzige Stimme, die sagte: »Ein hübscher Hals für den Strick!«
Abby hatte sich in den qualvollen Wochen ihrer Gefangenschaft immer und immer wieder vorzustellen versucht, wie ihr Prozess wohl ablaufen würde. Und unzählige Male hatte sie im Geiste durchgespielt, wie sie ihre Sache vor Gericht vertreten wollte. Sie hatte sich ihre Worte immer wieder neu überlegt, um auch ja nichts Falsches zu sagen. Schließlich war sie davon überzeugt gewesen, gut gewappnet und vorbereitet zu sein, um vor Richter und Geschworene zu treten. Sie hatte diesem Tag entgegengefiebert.
Doch nun kam alles ganz anders.
Vergessen waren die Sätze, die sie sich in schlaflosen Nächten zurechtgelegt hatte, um das Gericht von ihrer Unschuld zu überzeugen. Ausgelöscht wie eine schwache Flamme im Sturmwind. Ihr Gehirn war wie ein Puzzle, das sich plötzlich in seine zahllosen Bestandteile aufgelöst hatte. Alles wirbelte wild durcheinander. Nichts passte mehr zusammen. Es war ein Chaos der Gefühle und der Eindrücke, in deren Tiefe die Todesangst wie ein sprungbereites Raubtier lauerte und sie lähmte.
Es traf sie wie ein Schlag bei einer öffentlichen Züchtigung, als die Stimme des Staatsanwalts scharf und schneidend durch den Saal schallte: »Angeklagte Abigail Lynn …«
Von da an zog der Prozess wie eine Kette von immer schneller wechselnden Bildern an ihr vorbei. Sie hörte jedes Wort, das gesprochen wurde, und vermochte auch auf die bohrenden Fragen des Staatsanwaltes zu antworten. Doch irgendwie war nicht sie diejenige, die da verhört wurde und mit ihren Unschuldsbeteuerungen bei den Geschworenen nur auf verschlossene, abweisende Gesichter stieß.
Frederick behielt Recht. Das Urteil stand schon von vornherein fest. Die Aussagen der Zeugen waren erdrückend. Dagegen wirkte ihr Gestammel wie der lächerliche Versuch, den Geschworenen stinkenden Schwefel für duftendes Rosenöl verkaufen zu wollen.
»Hast du dem Gericht noch etwas vorzutragen, das du zu deiner Verteidigung ins Feld führen kannst, Angeklagte?«, fragte sie der hagere Richter schließlich.
Abby schüttelte benommen den Kopf und sagte mit einer tonlosen Stimme, die ihr selbst fremd war: »Nein, ich habe alles gesagt. Es war nicht so! Ich habe mit dem Taschendieb nicht gemeinsame Sache gemacht. Ich bin unschuldig! Unschuldig! Unschuldig …«
»Das genügt!«, rief der Richter.
Die Geschworenen brauchten sich keine fünf Minuten zur Beratung zurückzuziehen, um zu einem einstimmigen Urteilsspruch zu kommen.
»Die Angeklagte ist schuldig im Sinne der Anklage!«, verkündete der Obmann der Geschworenen.
Wie eine scharfe Axt fielen seine Worte in das erwartungsvolle Schweigen.
Der Richter räusperte sich und richtete seinen durchdringenden Blick auf Abby Lynn. »Auf deine Tat steht die Todesstrafe, Angeklagte. Doch mit Rücksicht auf dein jugendliches Alter verwandle ich die Todesstrafe in sieben Jahre Verbannung nach New South Wales! Gott möge deiner jungen und doch schon so verdorbenen Seele gnädig sein!«
»Verbannung nach New South Wales? Wo doch nur die Hälfte der Deportierten lebend dort ankommt?«, rief einer der Zuschauer höhnisch. »Da ist der Strick doch gnädiger! Ob nun sieben Jahre Sträflingskolonie oder zwanzig, von da gibt’s für keinen ein Zurück! New South Wales ist lebenslänglich.«
»Ja«, rief eine andere Stimme, die sich Abby für immer einprägen sollte, »und zwar am Ende der Welt!«
Achtes Kapitel
Zwei Wochen später wurde ein Gefangenentransport nach Portsmouth zusammengestellt. Dort wurde seit Anfang des Jahres ein aus drei Schiffen bestehender Verband, dessen Ziel die Sträflingskolonie New South Wales im fernen Australien war, von der Admiralität ausgerüstet und verproviantiert.
Die Umbauten und Sicherungsvorkehrungen in den Zwischendecks und im Laderaum waren abgeschlossen. Die lebende Fracht, die aus mehreren hundert Verbannten bestand, konnte nun an Bord gebracht werden. Schon in wenigen Wochen sollte die Flotte die Anker lichten und Kurs auf die 20000 Kilometer entfernte Sträflingskolonie nehmen.
Die hoffnungslos überfüllten Gefängnisse Englands nahmen die günstige Gelegenheit wahr, sich eines kleinen Teils ihrer Insassen zu entledigen. Wie gewöhnlich kamen auch diesmal viele der Sträflinge aus den Zellen von Newgate.
Es war ein frischer Morgen und auf den Gitterstäben glitzerte noch der Tau, als man Abby und gut hundert weitere
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