Abby Lyne 01 - Verbannt ans Ende der Welt
sie an.
»Was denn?«
»Ein Arzt muss kommen!«
»Ein Arzt?« Megan sah sie verdutzt an. »Das kannst du nicht im Ernst meinen! Ein Arzt! Pah!«
»Aber jedes Schiff hat doch einen Schiffsarzt, und der muss sich auch um die Kranken unter uns kümmern!«
»Wer sagt dir denn, ob er überhaupt schon an Bord ist? Und wenn das der Fall wäre, glaubst du wirklich, die Wärter würden ihn für deine Freundin aus dem Bett holen?«
»Sie müssen!«
»Mach dich nicht lächerlich! Wir sind Sträflinge, die nach New South Wales deportiert werden und keine Rechte haben.
Absolut keine, verstehst du mich? Sträflinge, bei denen es auf einen mehr oder weniger nicht ankommt. Hast du das denn noch immer nicht begriffen?«
»Aber sie können uns doch nicht einfach verrecken lassen, wenn wir krank werden!«, stieß Abby beschwörend hervor.
»Versuch doch, sie davon zu überzeugen, dass sie das nicht können!«, forderte Megan sie grimmig auf. »Aber ich sage dir, du wirst bei ihnen auf Granit beißen. Oder hast du gesehen, dass sich auf dem Transport irgendeiner von den Wachen um das Baby gekümmert hätte? Hat da jemand den nächsten Arzt geholt? Von wegen! Sie haben es elendig krepieren lassen! So sieht es mit ihrer Art von Gerechtigkeit und christlicher Nächstenliebe aus!«
Tränen der Verzweiflung sammelten sich in Abbys Augen, während sie Rachels heiße Hand hielt. »Sie darf nicht sterben, Megan«, sagte sie mit erstickter Stimme. »Sie darf nicht.«
»Die Natur wird ihren Lauf nehmen«, sagte Megan müde.
»Entweder besiegt Rachel das Fieber, das in ihr lodert, aus eigenen Kräften, oder aber der Tod holt sie, Abby. Wir können nur hoffen, dass der HERR sie noch einmal verschont. Wir können für sie beten.«
»Ich will nicht beten!«, antwortete Abby heftig. »Ich will, dass ihr geholfen wird!«
Megan seufzte schwer. »Du drehst dich im Kreis, Abby. Ja, wenn du genügend Geld hättest, um den Wärter zu bestechen, dann gäbe es vielleicht noch eine Chance, für Rachel einen Arzt zu bekommen. Aber wer von uns hat denn auch nur noch einen einzigen Penny …«
»Wie viel Geld?«, fragte Abby und packte sie so fest am Arm, dass Megan zusammenzuckte.
»Sag bloß …«
»Wie viel?«, drängte Abby.
»Vielleicht tut er es für ein Sixpence, vielleicht verlangt er aber auch einen Shilling. Was weiß ich! Bei diesen Kerlen weiß man nie, was sie einem abnehmen. Sie sind wie die Blutsauger. Erst wenn sie genug haben, lassen sie von einem ab.«
»Er kann alles bekommen, was ich habe«, stieß Abby aufgeregt hervor und machte sich an ihrem Kleidersaum zu schaffen.
Und sie erinnerte sich merkwürdigerweise in diesem Moment daran, wie sie mit Megan über diejenigen Frauen gesprochen hatte, die ihren Körper verkauften, um von den Wärtern etwas zu bekommen. Sie begriff, wie schnell man doch bereit war, alles herzugeben, ja, sich sogar zutiefst zu erniedrigen, wenn es darum ging, etwas zu erhalten, was einem jeden Preis wert war.
Megan schaute ungläubig zu, wie Abby mehrere Münzen aus dem Kleidersaum drückte. »Heilige Mutter Gottes! Du hast also wirklich noch Geld«, raunte sie und schaute sich nervös um, ob sie auch nicht beobachtet wurden.
»Viel ist es nicht, aber vielleicht reicht es für einen Arzt und gute Medizin.«
»Nicht viel? Das ist ein wahrer Schatz, den du da mit dir herumträgst«, flüsterte Megan. »Pass bloß auf, dass das niemand sieht, sonst schneidet dir nachts noch einer die Kehle durch.«
»Die Wärter werden mir wohl nicht viel davon lassen. Aber das ist mir egal, wenn Rachel nur wieder gesund wird.«
»Kennt ihr euch schon lange?«
»Nein, erst seit dem Abtransport von London.«
»Dann ist das ein großes Opfer, all dein Geld für eine Fremde herzugeben.«
»Es ist kein Opfer und Rachel ist mir auch nicht fremd«, erwiderte Abby mit fester Stimme und erhob sich. »Ich gehe jetzt. Bleibst du solange bei ihr?«
Megan nickte. »Viel Glück.«
Abby schlich auf Zehenspitzen durch den Gang zum deckenhohen Gitter. Ein Wärter hockte jenseits der Tür auf einem dreibeinigen Hocker, den Kopf gegen einen Balken gelehnt und die Augen geschlossen. Das Licht der Laterne, die neben der Treppe hing, beleuchtete sein bärtiges Gesicht.
Sie erkannte ihn wieder. Es war der Wärter, der ihr beide Blechnäpfe gefüllt hatte, und zwar mit großzügigen Portionen.
Wie war sein Name noch mal? Richtig: Charles.
Abby trat ganz nah ans Gitter und rief leise seinen Namen.
Er reagierte nicht. Erst als
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