Abby Lyne 01 - Verbannt ans Ende der Welt
mit den Achseln. »Was hast du denn geglaubt, würdest du für dein Geld bekommen, he?
Vielleicht den Leibarzt des Königs?«, höhnte er, fuhr dann aber besänftigend fort: »Ärzte, die auf ‘nem Schiff der East India Company fahren, gehören sicherlich nicht zu den Perlen ihres Berufsstandes. Das sagt einem der gesunde Menschenverstand. Du hast mich gedrängt, den Schiffsarzt zu holen, und genau das habe ich getan. Also, was willst du noch mehr?«
Abby musste sich innerlich eingestehen, dass der Wärter so Unrecht nicht hatte. Er hatte sie nicht darüber aufgeklärt, was das für ein Schiffsarzt war. Doch sie hatte ihn nicht danach gefragt, und er hatte getan, worum sie ihn angefleht hatte. Sie durfte nicht ungerecht sein. Ihn traf keine Schuld.
»Es ist schon gut«, sagte Abby einlenkend und gab ihm die restlichen Münzen, die Charles schnell verschwinden ließ.
Dann trat sie zu Cranston ans Bett ihrer schwer kranken Freundin.
Der Arzt hatte seine Untersuchung abgeschlossen und riehtete sich gerade auf. »Es ist schlecht um deine Freundin bestellt, mein Kind. Das Fieber hat schon ihren Geist verwirrt. Sie phantasiert und nimmt gar nichts mehr wahr. Nur die wenigsten überleben ein so hohes Fieber.«
»Haben Sie denn gar keine Medizin, die ihr helfen könnte?«, fragte Abby verzweifelt.
Mortimer Cranston schüttelte den Kopf. »Nichts, was den Tod auch nur halbwegs in seine Schranken weisen könnte, mein Kind. Ich habe ihr ein wenig Laudanum gegeben, das entspannt ihren Körper und lässt sie tief schlafen. Aber eine Medizin, die mit Sicherheit hilft, sie unter uns Lebenden zu halten, kennt unsere Wissenschaft noch nicht. Vielleicht eines Tages …«
»Aber kann man denn gar nichts tun?«, flüsterte Abby mit erstickter Stimme.
»Oh, es gibt eine ganze Menge, was man tun kann«, erwiderte der Arzt ruhig. »Sie braucht intensive Pflege. Du kannst ihr kühle Waden- und Brustwickel machen. Das senkt die Temperaturen und entzieht dem Körper die giftigen Säfte, wenn es noch nicht zu spät ist. Und sie muss viel zu trinken bekommen. Es ist gut, wenn sie schwitzt. Ich werde veranlassen, dass man ihr Tücher für die Wickel und Decken zuteilt … sowie dreimal am Tag einen Becher mit heißer Milch, Honig und Rum. Das wird ihrem geschwächten Körper helfen, gegen das Fieber anzukämpfen. Du musst es ihr Schluck für Schluck einflößen. Es ist wichtig, dass sie das zu sich nimmt.«
»Ja, ich werde dafür sorgen, ganz bestimmt!«, versicherte Abby und leistete im Stillen Abbitte für ihr vorschnelles Urteil, das sie über Cranston gefällt hatte. Heiße Milch mit Honig und Rum! »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll, Sir. Ich …«
Er fiel ihr ins Wort. »Schon gut, schon gut«, nuschelte er und klappte seine Tasche zu. »Es ist wenig genug, was ich für diese Unglücklichen hier unten tun kann. Manchmal wünschte ich, ich wäre Geistlicher statt Arzt geworden. Aber was rede ich da! Du weißt, was du tun musst. Alles andere liegt in Gottes Hand.« Ohne eine Antwort abzuwarten, schlurfte er gebückt davon, als zwänge ihn die Last der Verantwortung, die auf seinen Schultern lag, in die Knie.
Keine Stunde später brachte der Wärter die versprochenen Tücher, Decken und den Becher heißer Milch mit Honig und Rum. Neidische Blicke folgten Abby, als sie damit ans Krankenlager ihrer Freundin zurückeilte. Der herrliche Duft, der dem Becher entströmte, ließ auch ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen.
»Eine verfluchte Schande, dieses herrliche Gesöff an so eine zu vergeuden, der der Tod doch schon deutlich ins Gesicht geschrieben steht«, schimpfte Cleo.
Abby achtete nicht darauf, was Cleo sagte. Sie war viel zu sehr damit beschäftigt, Rachel das kostbare Getränk einzuflößen, was mit großen Schwierigkeiten verbunden war. Nur in ganz kleinen Schlucken konnte sie es ihr über die Lippen bringen. Ihre Freundin nahm sie gar nicht mehr bewusst wahr und phantasierte im Fieberwahn. Und immer wieder verschluckte sie sich und spuckte einen Schwall Milch aus.
»Lass es genug sein und heb den Rest für später auf«, riet Megan. »Wir können die Milch ja wieder aufwärmen.«
Abby legte der Kranken nun kühle Wickel an. Die Tücher waren zwar schon reichlich verschlissen, aber sie erfüllten ihren Zweck. Anschließend breitete sie die Decken über ihr aus, damit sie ins Schwitzen geriet, wie der Arzt gesagt hatte.
Am Abend ergriff Rachel eine Unruhe, die Abbys Angst noch steigerte. Ihre Freundin warf sich
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