Abby Lyne 01 - Verbannt ans Ende der Welt
daran, Megans Haltung zumindest zu verstehen … auch wenn es bitter war.
War der Morgen noch sehr weit?
Sie versuchte die Schläge der Schiffsglocke zu zählen, die hell durch die Nacht klang. Von anderen Schiffen schien Antwort zu kommen. Klare Töne, die die Schwärze der Nacht durchdrangen wie der ferne Lockruf eines Nachtvogels, der weit oben durch die Dunkelheit glitt. Vier Glasen. Erst zwei Stunden nach Mitternacht?
Schwer wie Blei wurden ihre Lider.
»Nur einen Augenblick«, dachte Abby erschöpft, lehnte sich gegen die Bordwand und schloss die Augen. Schon im nächsten Moment überfiel sie der Schlaf wie eine schwarze, weiche Woge, die sie unter sich begrub und davonschwemmte, in eine Welt wohliger Ruhe und Entspannung.
Wie lange sie geschlafen hatte, wusste sie später nicht zu sagen. Sie wachte auf, als irgendetwas über ihr Gesicht strich und einen Juckreiz auslöste. Benommen schlug sie die Augen auf.
Vor ihrem Gesicht wehte etwas Rotbraunes hin und her.
Träumte sie noch? Dann hörte sie plötzlich ein leises metallisches Geräusch und sofort darauf ein gieriges Schlürfen.
Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag ins Gesicht und hatte auch dieselbe Wirkung. Es war Cleo! Sie hatte sich von ihrem Bett aus über sie gebeugt und den Becher unter Rachels Bett hervorgezogen. Nun leerte sie ihn mit schnellen, gierigen Schlucken.
Cleo stahl ihr das kostbare Getränk, das für Rachels geschwächten fieberheißen Körper Medizin war und möglicherweise über Leben und Tod entscheiden konnte! Sie beraubte eine Kranke, die sich nicht zu wehren vermochte, und nahm dabei ihren Tod gleichgültig mit in Kauf!
Unbändiger Hass wallte in Abby auf und hätte sie beinahe dazu hingerissen, vorschnell und unbedacht zu handeln. In ihrer ersten Aufwallung von blindem Zorn hätte sie sich beinahe auf sie gestürzt, um auf sie einzuschlagen und ihr das Gesicht zu zerkratzen. Doch zum Glück hielt sie irgendeine Stimme der Vernunft zurück.
Es war nicht nur sinnlos, sich mit einer so kräftigen Frau wie Cleo prügeln zu wollen, sondern ausgesprochen lebensgefährlich. Wenn es stimmte, was Megan erzählt hatte, und es gab keinen Grund, daran zu zweifeln, dann beherrschte Cleo mehr gemeine Tricks, als sie sich je vorstellen konnte. Es gab wohl kaum etwas, das Cleo mehr gelegen kommen mochte als eine unbedachte handgreifliche Auseinandersetzung.
»O nein, den Gefallen werde ich dir nicht tun, du gemeines Weibsstück!«, sagte sich Abby im Stillen wutbebend und rührte sich nicht von der Stelle. Sie schloss die Augen zu schmalen Schlitzen und tat so, als würde sie noch immer schlafen.
Cleo hatte den Becher zurückgestellt, fuhr sich nun mit dem Handrücken über den Mund und legte sich auf ihre Pritsche zurück. Dabei warf sie einen hämischen Blick auf Abby, um sich dann selbstzufrieden auszustrecken.
Abby hörte sie rülpsen. Es fiel ihr schwer, die Ruhe zu bewahren. Doch ihr war klar geworden, dass es nur einen Weg gab, die schwelende Feindschaft zwischen ihnen zu ihren Gunsten zu entscheiden. Sie musste Cleo ein für alle Mal in ihre Schranken weisen und sie dazu bringen, dass sie sich nie wieder mit ihr anlegte. Jetzt war die Gelegenheit am günstigsten. Noch lagen sie im Hafen, und Cleo hatte noch keine Möglichkeit gehabt, sich bei einem Wärter Rückendeckung für irgendeinen hinterhältigen Racheplan zu verschaffen.
Doch sie musste Cleo mehr als nur Worte entgegensetzen.
Nur Gewalt konnte jemanden wie sie dazu bringen, sie demnächst in Ruhe zu lassen. Wie sehr sie selbst auch Gewalt verabscheute, in dieser Situation blieb ihr keine andere Wahl.
Abby tastete nach dem langen Eichensplitter, den Frederick ihr verschafft hatte. Sie hatte nicht geglaubt, dass sie ihn jemals brauchen würde, ihn aber all die Monate zusammen mit den Münzen wie ihren Augapfel gehütet. Jetzt war sie ihm für seine Voraussicht unendlich dankbar.
Mit einem vorgetäuschten schläfrigen Seufzer legte sie sich auf die Seite und zog die Beine an, sodass Cleo auf keinen Fall sehen konnte, wie sie den langen, spitz zulaufenden Holzstift unter dem Kleid aus dem Saum ihres Mieders zog, wo sie ihn all die Monate gut versteckt hatte.
Ihre Finger strichen über das ebenmäßige Holz, das sich so glatt und fugenlos anfühlte wie der marmorne Kaminsims eines herrschaftlichen Hauses. Und die Spitze des Eichensplitters konnte es mit jeder guten Dolchklinge aufnehmen, was seine Gefährlichkeit als Stichwaffe betraf. Frederick hatte damals sehr
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