Abby Lyne 01 - Verbannt ans Ende der Welt
von Natur aus geduldiger als sein Bruder. Und während er sich tagelang in der Kabine mit dem Studium von Büchern und Karten beschäftigen konnte, gab es für Andrew nichts Schlimmeres, als irgendwo auf engen Raum beschränkt zu sein. Er brauchte Bewegungsfreiheit, Arbeit, die er mit seinen kräftig zupackenden Händen erledigen konnte, und offenes, weites Land. Darin glich er ihrem Vater, der geistige Tätigkeiten zwar immer bewunderte, sie für sich jedoch nie in Betracht gezogen hätte.
»Aber es gibt nun mal Dinge, die man hinnehmen muss, weil man sie nicht mehr ändern kann«, fuhr Melvin fort, während sich die Sonne feuerrot über die Kimm schob und das Meer mit einer Flut goldfarbenen Lichtes überschwemmte.
Andrew warf ihm einen grimmigen Blick zu. »Für meinen Geschmack hat es in den letzten Jahren zu viele Dinge gegeben, die wir haben hinnehmen müssen.«
Melvin wusste, worauf sein Bruder anspielte. »Vater tut, was er für richtig hält. New South Wales ist für alle eine neue Chance. Das haben alle gesagt.«
»Vater hätte den Bauernhof nicht verkaufen sollen!«, widersprach Andrew heftig.
»Er musste ihn verkaufen. Der Hof war zu sehr belastet. Das weißt du genauso gut wie ich«, erwiderte Melvin ruhig. »Vater hätte die Schulden nie bezahlen und den Hof weiter bewirtschaften können. Eigentlich solltest du das besser beurteilen können als ich. Du warst auf dem Hof doch seine rechte Hand.«
»Verdammt, wir hätten den Hof jetzt noch in Devon und du hättest deine Studien am College abschließen können, wenn Vater bloß die Finger vom Glücksspiel gelassen hätte!«, stieß Andrew erregt hervor. »Ich versteh einfach nicht, warum er sich immer wieder an den Spieltisch gesetzt hat! Warum hat er nicht aufgehört, als er es noch konnte, statt immer mehr Schulden zu machen?«
»Du darfst ihm das nicht immer wieder zum Vorwurf machen!«, wies Melvin ihn zurecht. »Es war eine schwere Zeit für Vater, als Mutter damals starb. Vater hatte vorher nie gespielt, das weißt du. Aber ihr Tod hat ihn aus der Bahn geworfen.«
Ihre Mutter hatte sich von der Geburt ihrer Tochter Sarah nicht wieder erholt. Sie war langsam, aber stetig schwächer geworden. Kein Arzt hatte ihr helfen können. Es war ein langsames Dahinsiechen gewesen. Sarah war kein Jahr alt gewesen, als Mutter schließlich gestorben war. Sarah war übrigens in der Kabine ihres Vaters untergebracht.
Andrew starrte einen Moment schweigend auf die weite See hinaus, die nun im Licht der schnell steigenden Sonne glitzerte wie ein Spiegel, der den warmen Schein tausender Kerzen zurückwirft. Der Tod der Mutter hatte sie alle tief getroffen, doch als Entschuldigung für die Spielschulden ihres Vaters ließ er ihn nicht gelten. »Er hat unser Erbe verspielt, unsere Zukunft!«, sagte er deshalb mit bitterem Vorwurf.
»Zum Teil«, schränkte Melvin ein. »Immerhin ist nach dem Verkauf noch genug übrig geblieben, damit wir in New South Wales neu anfangen können.«
»Ja, in einer elenden Sträflingskolonie im hintersten Winkel der Welt, die erst vor ein paar Jahren gegründet worden ist!«
»Du übertreibst mal wieder gewaltig, mein lieber Andrew«, sagte Melvin auf seine geduldige Art. »New South Wales ist schon beinahe zwanzig Jahre eine unserer Kolonien. Die erste Sträflingsflotte ging nämlich schon am 26. Januar 1788 in der Bucht von Sydney an Land. So jung ist sie also nicht.«
»Gut«, sagte Andrew widerwillig. »Aber kannst du dir das Leben in einer Kolonie vorstellen, wo es von Gesindel aller Art nur so wimmelt? Halt! Ich weiß schon, was du sagen willst. Dass von Jahr zu Jahr mehr freie Siedler nach Australien gehen …«
»Richtig.«
»Aber diese Leute, die England den Rücken kehren, sind doch durch die Bank gescheiterte Existenzen, von ein paar Ausnahmen abgesehen«, fuhr Andrew erregt fort. »Schau dir doch nur die anderen Passagiere an: der fette, selbstgefällige Mister Delton mit seiner Vogelscheuche von Frau, die sich so gottgläubig und fromm wie ein ganzes Dutzend Betschwestern gibt, in Wirklichkeit aber eine zickige Giftnudel ist, die an nichts ein gutes Haar lässt! Wenn Christus ihr über den Weg laufen würde, ich garantiere dir, sie würde auch an ihm kritteln und herumnörgeln!«
»Bitte, mäßige dich ein wenig!«, mahnte sein Bruder und schaute sich besorgt um, ob sie nicht ungebetene Zuhörer hatten. Doch außer dem Steuermann und der Wache, die sich alle außer Hörweite befanden und mit ihren Aufgaben
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