Abby Lyne 01 - Verbannt ans Ende der Welt
Berg hinunter«, antwortete sein Bruder gelassen. »Es wird ja auch noch akzeptable Söhne von freien Siedlern geben.«
»Was für eine grandiose Aussicht!«
»Komm, sieh das doch nicht so schwarz. Es wird schon alles gut werden«, sagte Melvin zuversichtlich, um seinen Bruder aufzumuntern. »Wir können jeden Tag Land sichten, und dann liegt das Schlimmste hinter uns. Denk doch nur mal an die armen Kreaturen, die da unter Deck eingesperrt sind und bestenfalls einmal am Tag für eine halbe Stunde ans Licht dürfen. Die solltest du bedauern.«
»Wüsste nicht, warum ich sie bedauern sollte«, gab Andrew gereizt zurück. »Du wirst uns doch wohl nicht mit diesem Sträflingspack auf eine Stufe stellen wollen, oder? Das sind Verbrecher, die nichts Besseres verdient haben, der Abschaum aus unseren Gefängnissen.«
Melvin seufzte. »Du bist wirklich in einer reichlich unversöhnlichen und auch ungeselligen Stimmung. Es ist wohl besser, wir lassen das Thema für heute. Komm, sehen wir nach, ob Vater und Sarah schon auf sind.« Er legte einen Arm um die Schulter seines Bruders und lächelte ihn entwaffnend an. »Du magst mich für gefühllos halten, aber Tatsache ist, dass auch deine mürrische Laune es nicht geschafft hat, mir meinen Appetit auf ein deftiges Frühstück zu nehmen!«
So verdrossen Andrew auch war, ein Lachen konnte er nun doch nicht unterdrücken, und er war froh, dass ihm bei ihrem höchst zweifelhaften Neubeginn in der Sträflingskolonie zumindest ein so prächtiger Bruder wie Melvin zur Seite stand.
Zweites Kapitel
Können wir den Unterricht nicht mal für einen Tag ausfallen lassen?«, bat Rachel. »Es lohnt doch gar nicht mehr, was Neues anzufangen, wo wir vielleicht gleich an Deck können.«
Abby schüttelte energisch den Kopf. »Kommt überhaupt nicht in Frage. Wenn die Wächter die Tür aufschließen, ist es immer noch früh genug, die Schiefertafel wegzulegen.«
»Aber mir raucht schon der Kopf vor lauter Zahlen«, klagte Rachel. »Du hast einmal selbst gesagt, dass es nichts bringt, wenn man sich etwas mit Gewalt einzutrichtern versucht.«
Abby lachte. »Das habe ich gesagt, als du noch geglaubt hast, Lesen, Schreiben und Rechnen innerhalb von ein, zwei Tagen lernen zu können«, erwiderte sie völlig unbeeindruckt. Rachel jammerte jeden Morgen, wenn sie ihren Unterricht aufnahmen, schon nach wenigen Minuten, dass sie sich nicht richtig konzentrieren könne. Doch das legte sich schnell, wenn sie erst einmal wieder an der Arbeit war.
»Du bist ein schlimmerer Sklaventreiber als Sam Harrow!«
»Geh nicht so großzügig mit deinem Lob um«, spottete Abby gutmütig. »Nachher weißt du gar nicht mehr, wie du dich steigern sollst.«
Rachel seufzte schwer. »Also gut, machen wir weiter«, lenkte sie ein. Denn so sehr sie auch klagte und so tat, als müsste sie alle Überwindungskraft aufbringen, um sich von ihrer Freundin unterrichten zu lassen, so sehr brannte sie in Wirklichkeit doch darauf, die Kunst des Rechnens, Schreibens und Lesens zu erlernen. Und sie war Abby unendlich dankbar, was sie in all den langen Monaten der Überfahrt für sie getan hatte, ganz davon abgesehen, dass sie ihr Leben gerettet hatte.
Die unendliche Geduld, die Abby vor allem in den ersten beiden Monaten mit ihr gehabt hatte, hätte sie selbst kaum aufgebracht. Sie war stolz darauf, dass sie nun schon recht passabel lesen und schreiben konnte, sofern die Worte nicht allzu schwierig waren. Und sie würde das Abby nie in ihrem Leben vergessen. Doch sie war kein Mensch, der Dankbarkeit durch allzu viele Worte zum Ausdruck brachte. Und zum Glück bedurfte es auch keiner Worte. Ihre Freundschaft war längst so tief verwurzelt, wie sie es nie für möglich gehalten hätte. Wenn es darauf ankäme, würde sie für Abby alles riskieren – sogar ihr Leben. Das wusste sie.
»Aber bitte mit Schreiben oder Lesen«, bat Rachel und nahm die Schiefertafel auf den Schoß. »Für deine Zahlenspiele fehlt mir heute total der Sinn.«
»Damit sagst du mir nichts Neues«, erwiderte Abby trocken.
Während Rachel im Schreiben und Lesen hervorragende Fortschritte erzielt hatte, bereitete ihr der Umgang mit Zahlen immer noch größte Schwierigkeiten. »Aber meinetwegen verlegen wir das Rechnen auf später. Also schreib Folgendes auf …«
Während Rachel nun mit ungelenker, aber doch lesbarer Handschrift auf die Schiefertafel kratzte, was sie ihr diktierte, dachte Abby daran, wie alles begonnen hatte.
Die ersten Wochen der
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