Abby Lyne 01 - Verbannt ans Ende der Welt
beschäftigt waren, hielt sich niemand an Deck auf.
Andrew ignorierte die Zurechtweisung. Er musste seinem Unmut einfach mal Luft machen. »Irgendetwas stimmt doch nicht mit den beiden. Du brauchst das Gespräch doch nur mal auf seine angebliche Vergangenheit als Buchhalter bei einem Handelskontor zu bringen, und schon zieht er sein Schnupftuch, das so groß wie ein Segel ist, aus der Rocktasche, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen, während sie am liebsten Zuflucht in ihrem Gebetbuch nehmen würde. Ich gehe jede Wette ein, dass die beiden einen guten Grund gehabt haben, warum sie England verlassen haben und sich in Australien niederlassen wollen.«
»Ich denke, du bist so gegen jede Art von Glücksspiel?«, frotzelte Melvin.
»Und was ist mit diesem glatzköpfigen Mister William Thackery, der immer stumm wie ein Fisch bei Tische sitzt und jeden finster anstarrt, als traue er keiner Menschenseele auch nur von seiner Nase bis zur Gabelspitze über den Weg.«
»Andrew! Bitte!«
»Bestimmt argwöhnt er, und das zu Recht, dass wir schon längst nicht mehr an sein Märchen glauben, dass seine blutjunge Begleiterin, diese bildhübsche Deborah, seine Nichte ist und er für sie nichts weiter als so etwas wie großväterliche Gefühle hegt, dieser scheinheilige Lustmolch!«
Melvin lachte unwillkürlich. Sein Bruder verstand es, ihre Mitreisenden sehr treffend zu schildern. »Aber dafür redet Mister Potter für drei.«
»Mister Potter ist ein Aufschneider und Blender!«, urteilte Andrew forsch.
»Zumindest weiß er eine Gesellschaft zu unterhalten.«
»Ja, auf Kosten anderer. Und ich könnte mir vorstellen, dass er sich seinen Lebensunterhalt bisher auch auf diese Art verdient hat«, sagte Andrew und fügte sarkastisch hinzu: »Obwohl das Wort ›verdienen‹ wohl nicht so recht auf Hochstapler wie ihn passen dürfte.«
Melvin schüttelte den Kopf. »Mein Gott, heute bist du ja regelrecht in Fahrt. Ich muss wohl direkt dankbar sein, dass du wenigstens mich bei deiner Generalabrechnung ausgeklammert hast. Oder komme ich auch noch dran?«, versuchte er ihr Gespräch ins Spaßige zu ziehen.
»Ach, mir steht diese grässliche Seereise mittlerweile bis hier oben!«, schimpfte Andrew und fuhr sich mit der flachen Hand an die Kehle. »Und ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie wir ausgerechnet in einer Sträflingskolonie unser Glück machen sollen, wie Vater immer beteuert.«
»Das sagt nicht nur Vater, sondern auch Captain Winston, und dessen Urteil wirst du ja wohl nicht in Frage stellen wollen, oder? Immerhin ist das jetzt schon seine sechste Fahrt nach New South Wales, und er hat da einiges gesehen, um sich ein solides Urteil erlauben zu können.«
»Nein, der Captain ist ganz in Ordnung«, räumte Andrew widerstrebend ein. »Aber zwischen ein paar Wochen Aufenthalt zwischen den Reisen und der Entscheidung, sich dort mehr oder minder für immer niederzulassen und den Rest seines Geldes zu riskieren, ist ja doch noch ein kleiner Unterschied.«
»Wenn Captain Winston sagt, dass ein Mann, der zuzupacken bereit ist, in New South Wales zehnmal mehr erreichen kann als in England, dann gibt das doch Anlass, optimistisch in die Zukunft zu blicken, Bruderherz. Wir werden in der Kolonie viel mehr Land besitzen als in Devon. Wir bekommen Lebensmittel für ein Jahr, Saatgut, Gerätschaften und Sträflinge als Arbeitskräfte. Und das Land schenkt uns die Regierung auch.«
»Ja, aber was für Land! Irgendwo in der Wildnis, wo du jede Handbreit Ackerboden erst mal von Baum und Strauch befreien musst. Das wird verdammt hart, Melvin, ein echtes Pionierleben im Busch!«
»Aber das müsste doch ganz besonders für dich eine reizvolle Herausforderung sein. Du liebst doch solche Arbeiten im Freien«, meinte Melvin.
»Möglich, aber was ist mit dir?«, fragte Andrew. »Das Leben auf dem Bauernhof war doch nie dein Fall. Wolltest du nicht Anwalt werden und eines Tages eine eigene Kanzlei besitzen?«
Melvin zuckte mit den Achseln. »Das war mehr Vaters Wunsch, obwohl ich selbst auch nicht abgeneigt war. Aber das ist nun Vergangenheit. Werde mich schon daran gewöhnen, Land zu roden und Ackerfurchen zu ziehen. Also mach dir wegen mir keine Gedanken.«
»Gut, aber wie steht es mit Sarah? Noch ist sie ja klein, und wo sie aufwächst, kann ihr ja noch egal sein. Aber wenn sie mal alt genug ist, um zu heiraten, soll sie sich da einen Mann unter freigelassenen Sträflingen suchen?«
»Bis dahin fließt noch viel Wasser den
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