Abendland
Mensch, der Carl je begegnet war. Er war Dozent am Mathematischen Institut, mehr war er nicht, verdiente sich damit gerade das Minimum für seine Existenz, wirkte dennoch immer elegant, trug Anzüge, die aussahen, als wären sie maßgeschneidert (und zwar in einem der deutschen Handwerksbetriebe, die sich seit Anfang der zwanziger Jahre in Moskau oder Leningrad niedergelassen hatten). Hatte er also noch andere Einnahmequellen? Es war nichts aus ihm herauszubekommen, und niemand schien Näheres über ihn zu wissen. Mit der Zeit kam Carl der Verdacht, daß sein größtes Geheimnis darin bestand, daß er keines hatte. Manchmal kam es vor, daß ihm jemand eine persönliche Frage stellte – wo er das Wochenende verbringe und mit wem oder ob seine Eltern auch in der Stadt lebten – dann blickte er dem Frager gerade in die Augen, als warte er auf die nächste Frage; Antwort gab er nicht.
Nach Emmy Noethers Vorlesungen traf sich regelmäßig ein Kreis von Wissenschaftlern, Studenten, Neugierigen und Interessierten in Pontrjagins Büro – das interessanterweise das größte am Institut war. Man brachte mit, was man hatte. Selten hatte jemand etwas anderes als einen Sessel aus Kirschholz – solche standen massenweise im Institut herum – und Schnaps. Also wurde auf Kirschholzsesseln gesessen und Schnaps getrunken. Und diskutiert.
Außerdem hatten sich Emmy Noether und Carl mit Ksenia Sixarulize angefreundet, die eine bekannte Volkskundlerin war. Sie stammte aus Georgien und war schon ein deutliches Stück über Fünfzig – ein körperlich aufs Wesentliche reduzierter Mensch, ausgedörrt wie eine Hungerhexe mit schwarzgefärbten offenen Haaren, überschminkten Fingern, nikotinbraunen Zähnen und einem breiigen Bronchienlachen, vor dem jeder zurückwich. Für ein paar Semester war sie aus Tiflis nach Moskau gekommen, um an der Universität über die Märchen der verschiedenen Völker der Sowjetunion zu sprechen. Sie war zu den Mathematikern geeilt, als sie erfuhr, daß eine Frau Vorlesungen halte, die aus Göttingen hierhergekommen sei. Das erste, was sie, den Zeigefinger vor Frau Professor Noethers Brust in die Luft hämmernd, rief, war: »Jacob Grimm, Wilhelm Grimm!«; und als diese erschrocken stammelte, sie wisse nicht, was sie damit sagen wolle, in akzentfreiem Hannoveraner Deutsch explizierte: »Was ihr eure Sprache nennt, das habt ihr nicht Goethe oder Lessing zu verdanken, sondern Luther und den Märchenbrüdern!« Sie beherrschte sogar umgangssprachliche Sonderheiten verschiedener deutscher Regionen, so daß sie, ohne nachfragen zu müssen, Emmy Noethers komplizierte Witze verstand. Sie selbst kannte ebenfalls unzählige Witze und konnte sie so gut erzählen, daß sie den hohen Ansprüchen des Gastes gerecht wurde – weswegen alle am Institut in den Genuß eines bis dahin nicht gehörten Lachens kamen. Die beiden konnten einander gut leiden, und mit einer kleinen Wehmut registrierte Carl, daß die Georgierin nach wenigen Tagen bereits eine Leichtigkeit im Ton anschlug, die er in den Gesprächen mit seiner Professorin wohl nie erreichen würde. Sie duzten einander. Carl hatte geglaubt, Frau Professor Noether erlaube das Duwort niemandem außerhalb ihrer Verwandtschaft. Ihn nannte Frau Sixarulize den »edlen Silbernagel«, weil er so groß und dünn war und hellblonde Haare hatte.
Der dritte im Bunde war ein junger Mann namens Jossif Aszaturow. Er studierte Ingenieurwissenschaften und hatte es als Mitglied eines studentischen Schachclubs an der Universität zu einer bescheidenen Berühmtheit gebracht – vor allem aber durch sein Aussehen. Er war von einer ins Romantische ragenden Häßlichkeit – Carls Schilderung erinnerte mich in der Tat an das Geschöpf aus Mary Shelleys Frankenstein –, ein Riese mit einem in die Länge gezogenen Gesicht, maskenhaft, blaß und wachsglatt. Seine Nase war flach und in sich verkrümmt, die Augen punktklein und rosarot gerändert. Nach jedem Wort, das er von sich gab – er habe in einer abgehackten Art gesprochen, die an einen Wahnsinnigen denken ließ –, bewegten sich die Lippen mümmelnd weiter, als formulierten sie stumm, was eigentlich gemeint, aber nicht ausgesprochen worden war. Er sprach befriedigend Deutsch, besserte manchmal mit ein paar Brocken Französisch nach. Wenn sich das Stammeln aber erst gelegt hatte, wurde einem die Freude zuteil, sich mit einem brillant denkenden Mann zu unterhalten, der die komplexesten Zusammenhänge in einer Klarheit darzustellen
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