Abendland
der Schachtel – und rauchte sie in der Küche zum Fenster hinaus, den glühenden Stummel ließ ich in den Lichtschacht fallen. Bei einer dreiviertelvollen Schachtel müßte er ein pedantischer Mensch sein, um zu merken, daß zwei Zigaretten fehlten, wenn aber von drei Stück zwei weg waren, war klar, daß der Vater den Rucksack durchwühlt hatte. Ich fuhr also noch einmal nach unten, lief quer über die Kreuzung zum Kiosk in der U-Bahn-Station und kaufte eine Schachtel Camel. Wie an jedem Samstag war der Platz vor der Station voll mit Fixern und Giftlern. Es roch nach Kotze, Urin und verschüttetem Rotwein. Als ich mit der Packung in der erhobenen Hand aus dem Kiosk trat – die Trafikantin hatte sie mir über den Ladentisch gereicht, und in dem Gedränge wäre es mir nicht möglich gewesen, den Arm zu senken, ohne jemanden im Gesicht zu berühren –, zeigte einer mit dem Finger auf mich und hüpfte und drängte sich zu mir durch und lachte mit markigem Ha-ha, als hätte er mich endlich gefunden. Sein Gesicht war narbig wie eine alte Zielscheibe, sein Kopf zerzaust, der ganze Mann wie aus dem Freundeskreis um Jesus gestiegen, abgesehen davon, daß er einen Foxterrier an einen Strick und den Strick an seinen Gürtel geknotet hatte. »Schenk’ mir ein paar von denen!« rief er. »Ich bete für dich, morgen ist Ostern!« Ich riß die Packung auf und gab ihm die Hälfte der Zigaretten. »Ich kenn’ dich eh«, sagte er. »Ich hab’ dich im Aug’. Du hast mich bisher noch nicht enttäuscht.« »Super«, sagte ich. Er hielt mich fest, was mich in Panik versetzte, drei von den Zigaretten, die ich ihm gegeben hatte, fielen auf den Boden. Ich ekelte mich vor seiner Hand und vor seinem Hund, dessen Fell aussah, als hätte einer Himbeersirup daraufgeschüttet. »Ich rauch’ eine mit dir! Ich geb’ dir eine von mir. Da schau an, zufällig die gleiche Sorte wie du.« In seinem Blick war etwas Wahnsinniges, das ich ihm aber nicht abnahm, er meinte, ich erwarte so etwas von ihm. »Super«, sagte ich, »ich hab’ leider keine Zeit.« »Du hast schon Zeit. Du hast für den da und den da keine Zeit. Aber für mich hast du Zeit. Das weißt du genau. Wenn du etwas brauchst, mußt du es nur sagen.« »Ich habe alles«, sagte ich. »Wirklich«, sagte er, »ich kenn’ dich. Du wohnst ja eh gleich hier. Ich hab’ kein Feuer.« »Ich auch nicht«, sagte ich und stieß mich von ihm ab. Er aber griff flink nach meinem Ärmel und zog mich und seinen Köter zwischen den Gebrechlichen und Geschundenen hindurch, denen die Knie weich waren und die halb in die Hocke gesunken dastanden, weswegen sie wie Mißgeburten mit überlangen Oberkörpern aussahen. »He, Sally!« rief er einem Mädchen zu, die nicht älter sein konnte als vierzehn, und zu ihr sprach er nicht mehr in dem zugerauchten Hippie-Singsang, in dem er mit mir gesprochen hatte, sondern wie ein klar denkender Zuhälter. »Gib meinem Freund hier Feuer!« »Ich hab’ keins«, jammerte sie. »Besorg’ eines!« Sie streckte ihm die Zunge heraus, und er schlug ihr mit den Knöcheln auf den rotgefärbten Schädel. »Ich will keine rauchen«, sagte ich, »und mit Ihnen zusammen schon gar nicht, und jetzt lassen Sie mich bitte sofort los!« Das klang so dämlich, daß ich mir selbst gern auf den Kopf geklopft hätte. »He«, sagte er, »kein’ Stress, du bist in Ordnung, wie du bist, ich bete für dich. Das hab’ ich dir doch versprochen. Du kannst dich drauf verlassen.« Ich gab ihm einen Stoß, so daß er den Alten mit den langen grauen Haaren und dem Charles-Manson-Gesicht, der uns unentwegt anstarrte, rammte, und der, als hätte er auf so eine Gelegenheit nur gewartet, rammte einen dritten, und dieser einen vierten – und ich lief los, die Schachtel Camel immer noch über mir in der Hand wie die olympische Fackel. Ich lief an den Taxifahrern vorbei, die an ihren Mercedessen lehnten und zuschauten, als wär’s Fernsehen, lief über die Kreuzung zurück zu unserem Hauseingang. In der Schachtel waren gerade noch fünf Zigaretten, zwei in der Mitte abgeknickt. An der Ecke zur Linken Wienzeile, vis-à-vis vom BIPA, parkte ein Polizeiwagen, die Fenster waren heruntergelassen, ein Beamter und eine Beamtin blickten gelangweilt auf die Menschen, die aus der U-Bahn drängten, der Polizist rauchte. Ich fragte ihn um Feuer, er hob die Hand, schnippte die Asche ab und hielt mir die Glut hin, alles ohne mich anzusehen. Ich nahm zwei Züge und warf die Zigarette zusammen mit den
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