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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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sofort wieder an den Hodensack, als würde er seine Befehle nicht von derselben Zentrale wie meine anderen Organe erhalten. Dr. Strelka hatte mir eine Schachtel Viagra mitgegeben. Acht Stück waren in der Packung. Drei hatte ich noch in Lans genommen, sie hatten tatsächlich gewirkt: Mein Penis war angeschwollen und hatte sich ein wenig aus seinem Bett zwischen den Hoden gestemmt. Was immerhin bewies, daß die Nerven – Professor Strelka: »die an der Prostata entlangführen wie Hosenträger am Bauch« – nicht durchtrennt oder irreversibel geschädigt waren. Für eine Erektion oder gar einen Orgasmus reichte die chemische Hilfe nicht aus. Zwei weitere Tabletten nahm ich, als ich wieder zu Hause in Wien war. Ich bekam einen roten Kopf und Ohrensausen und konnte nicht schlafen. In der Packungsbeilage las ich, das Präparat wirke nur bei bereits vorhandener Erregung, es ersetze nicht ein Aphrodisiakum. Die restlichen drei Tabletten spülte ich in stoischer Verzweiflung die Toilette hinunter. Dabei hatte ich in den letzten Tagen in Lans schließlich doch recht schöne Erfolge erzielt – ohne die blauen Pillen, allein mit der Unterstützung von Phantasien bis dahin unbekannter Art, die nicht um den Geschlechtsakt oder andere auf den Orgasmus zielende Praktiken kreisten, sondern bloße Zärtlichkeiten enthielten – was mich neben der Freude über den Erfolg allerdings auch etwas beunruhigte, weil ich hier eine Vorschau auf ein Geschlechtsleben ohne virile Leidenschaften argwöhnte. Schöne Erfolge – damit meine ich, ich hatte Erektionen zustande gebracht, die mich durchaus in die Lage versetzt hätten, den Geschlechtsakt zu vollziehen; zum Orgasmus habe ich es freilich nicht geschafft – aber das verstimmte mich nicht, ich vermied ihn sogar in halber Absicht, fürchtete ich doch, die alten Empfindungen, die er ohne Zweifel in mir rekrutiert hätte, würden meine neue bescheidene Zufriedenheit stören. In diesem zärtlichen Phantasieren hielt mich Frau Mungenast in ihren Armen, und sie streichelte meinen Penis, wie Margarida den meines Vaters gestreichelt hatte, als der in seiner größten Not auf dem Sofa unserer Wohnung in der Penzingerstraße gelegen war, und mir wurde klar, warum meine Mutter ihr ohne Empörung dabei zugesehen hatte: nämlich, weil sie wußte , daß es Margarida aus Barmherzigkeit tat. Als ich Lans und Carl und Frau Mungenast verließ, büßte die Vision jede Mächtigkeit ein. Was mir Trost und Zuversicht gegeben hatte, erschien mir in Wien infantil und pervers. Also versuchte ich es mit rohem aneidetischem Wichsen. Aus einem Diskussionsforum im Internet, an dem sich Betroffene mit ähnlichem Schicksal beteiligten, erfuhr ich von Fällen, in denen schon bald nach der Ektomie der Prostata die Potenz für kurze Zeit einigermaßen hergestellt, aber von einem Tag auf den anderen erloschen war, und zwar für immer. Ich begann, mich damit abzufinden, daß ich so ein Fall sei. Die morgendlichen Übungen unter der Dusche führte ich zwar noch fort, aber ohne Hoffnung, bald auch ohne Verzagtheit, einfach nur, weil es sich für einen anständigen Menschen gehörte, sich auf diesem heiligen Feld nicht geschlagen zu geben – ein Don Quixote der sexuellen Zuversicht, von jeglicher Lust so weit entfernt wie das Schneewittchen hinter den sieben Bergen. Den Erfolg an diesem Karsamstag morgen, davon war ich überzeugt, verdankte ich meinen Gedanken an Dagmar – die Geliebte, die Frau, die Mutter meines Sohnes … so ungefähr … alles Elemente des Plots, den ich mir unter der Dusche ins Herz diktierte; und mich gleichzeitig dabei verfluchte, weil ich offensichtlich nichts, aber auch gar nichts mehr ohne Ironie wahrzunehmen vermochte, auch die Liebe nicht – nichts, ohne mich irgendeiner Überlegenheit zu versichern. Dennoch hätte ich jauchzen wollen!
    Ich fuhr mit dem Lift nach unten, holte die Frankfurter Allgemeine und den Standard aus meinem Postkasten. Wieder oben, setzte ich Kaffee auf und las, daß Timothy McVeigh, der 1995 als 26jähriger das Bombenattentat auf das Alfred P. Murrah Federal Building in Oklahoma City verübt hatte, bei dem 168 Menschen getötet worden waren, sich für den 19. Mai eine landesweite Fernsehübertragung seiner Hinrichtung wünsche, er betrachte dieselbe nämlich als »Selbstmord mit staatlicher Hilfe in Form von 10.000 Volt«. Je wahnsinniger Botschaft und Bote, desto mehr Zahlen kommen vor. Ich holte eine zweite Zigarette aus Davids Rucksack – nun war nur noch eine in

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