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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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neben der Bank und schlug dorthin, wo er Maros Gesicht vermutete. Die beiden anderen versuchten, Maro unter der Bank hervorzuzerren. Sie hämmerten mit ihren Bierkrügen auf seine Finger, damit er das Sitzbrett loslasse, rissen an seinen Haaren und traten mit ihren Schuhen gegen Oberschenkel, Becken und Nieren. Von Maro war kein Laut zu hören; sein Peiniger aber brüllte um so lauter, er war außer sich. Maro mußte etwas Ungeheuerliches gesagt oder getan haben. Aber ich hatte nichts mitgekriegt. Ich kannte den Schläger nicht, hatte ihn nie vorher gesehen, fett, Pickel auf den Backen, groß, aus dem Dorf war er nicht. Ich meinte, er hatte so etwas wie eine Fahrradkette in der Faust. Günther Veronik, damals mein Freund, mit dem zusammen ich die Szene beobachtet hatte, behauptete hinterher, es sei ein Radmutterschlüssel gewesen. Aber warum nimmt einer einen Radmutterschlüssel oder eine Fahrradkette zu einem Feuerwehrfest mit? Wir waren bestürzt, und bis spät in die Nacht hinein saßen wir in unserer Scheune, wo mein Verstärker und meine Gitarre standen und sein E-Baß und das bißchen Schlagzeug, das wir zusammengetragen hatten. Wir haben geredet, und ich habe die Tür abgesperrt, und wir beide wußten nicht, wie wir das benennen sollten, was wir gesehen hatten, denn weder er noch ich waren je Zeuge solcher Gewalt gewesen. Günther hatte sich auf dem Weg nach Hause zweimal übergeben, und ich mußte hart an mich halten, damit ich nicht zu heulen anfing. Aber nicht vor dem Schläger und seinen Komplizen schüttelte es mich, sondern vor dem Geschlagenen, vor seinem glücklichen, bösen Blick, der mich getroffen hatte. Er hatte mich angesehen. Es bestand kein Zweifel: Er hatte mich angesehen, mich und sonst keinen.
    Eine Woche später redete er mit mir.
    »Ihr habt eine Band«, sagte er. »Ich spiel mit.«
    Er stand auf der Straße, gegenüber unserem Haus, lehnte am Gartenzaun des Nachbarn, Arme verschränkt, Haare hinter die Ohren gekämmt, honigblond, ein Knie angezogen. Schon mit sechzehn hatte er einen Zug um den Mund, wie ihn alte bittere Männer haben. Er trug ein Blouson aus grobem braunem Stoff, enge schwarze Hosen und spitze schwarze Halbschuhe. Keine Socken. An der Schläfe war eine Narbe zu sehen. Er war etwas kleiner als ich. – Niemand, auch kein Erwachsener, hätte sich getraut, nein zu sagen.
    Ich sagte: »Was spielst du?«
    Er sagte: »Keine Ahnung. Irgend etwas, und Chucky spielt Schlagzeug.«
    »Wir haben bereits einen Schlagzeuger«, sagte ich.
    »Dann haben wir jetzt einen neuen«, sagte er. Spuckte aus, drehte sich um, ging die Straße hinauf, vorbei am LKW-Parkplatz vom Frächter Winkler.
    Ich blickte ihm nach und dachte: Ich werde mein Leben nicht mehr so führen können, wie ich es in meinen Träumen geplant hatte. Es wird kein Haus, keine Hütte, kein Loch auf der Welt geben, wo ich mich vor diesem Menschen verstecken kann. Ich werde Dinge tun, die ich nicht tun will. Ich werde in Zwänge geraten, wie ich sie mir heute nicht vorstellen kann. Ich werde alles verlernen. Das Beste vergessen. Das Liebste verlieren.
2
    Nofels ist der Name des Dorfes. Es liegt am Rhein, auf der anderen Seite ist Schweiz. Hier endeten die Straßen. Zum Bahnhof der Stadt Feldkirch mußte man mit dem Bus fahren. Oder eine Stunde zu Fuß gehen. Es gab einen Lebensmittelladen, eine Metzgerei, drei Gasthäuser, Kirche mit Friedhof. – Als ich noch nicht ganz fünfzehn war, zog unsere Familie von Wien nach Vorarlberg. Carl hatte meinem Vater in Rekordzeit einen Job vermittelt – als Musiklehrer am Gymnasium in Feldkirch. Er meinte, damit die endgültige Katastrophe abgewendet zu haben.
    Mein Vater war aus Amerika zurückgekommen, wo er die Größten kennengelernt und auch mit einigen von ihnen zusammen gespielt hatte – vor allem mit Chet Baker, mit dem er durch zwei Dutzend Staaten getourt und der zu dieser Zeit bereits dem Heroin verfallen war, worunter aber »weder seine Musik noch seine Freundlichkeit litten«; und nun war mein Vater wieder in Wien, und er war erfüllt von einer Mission. Die Begeisterung für den Jazz hatte in Wien in den vorangegangenen Jahren, eigentlich schon, seit die Amerikaner aus Österreich abgezogen waren, deutlich nachgelassen; der allgemeine Musikgeschmack war in dumpfe Schlagerherrlichkeit abgesunken; die Elite, wie sich jene allmählich wieder zu nennen begannen, pilgerte nach Salzburg, wo, wie sie überzeugt war, Herbert von Karajan allein zu ihren Ehren die Musik von vor

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