Abendland
den Leuten die Hand, einem nach dem anderen. Evelyn sagte, sie verstehe nicht, daß auch ich gehen müsse. Ich müsse, sagte ich, ich würde sie morgen anrufen.
Davids Rucksack stand noch in meiner Bibliothek. Ich hatte ihm, als er sich entschloß, über die Feiertage zu bleiben, einen Schlüssel zu meiner Wohnung gegeben. Es war kurz nach Mitternacht. Ich war nicht übermäßig beunruhigt. Ich setzte mich in den Fauteuil und wartete.
Gegen halb eins klingelte das Telefon. Ich sah auf dem Display, daß es Dagmar war. Ich ließ es klingeln. Ich hörte meine Stimme auf dem Anrufbeantworter und dann Dagmars Stimme. Sie hoffe, uns gehe es gut. Sie probiere es vielleicht später noch einmal. Oder morgen. Sie klang künstlich heiter. Ich ließ mir einen Kaffee aus der Espressomaschine und marschierte durch die Wohnung.
Ich fuhr mit dem Lift nach unten und trat auf die Wienzeile. Es herrschte kaum noch Verkehr. Über den Platz vor der Markthalle schlenderte eng umschlungen ein junges Paar, er barbieblond gefärbt; auf der Dachrinne hockten die Tauben und schliefen; in den Naschmarkt hinein schob ein junger Mann sein Fahrrad, er hatte die Kapuze seines Pullovers übergezogen und pfiff ein Lied.
Ich fuhr mit dem Lift nach oben. An der Tür hörte ich das Telefon klingeln. Es war wieder Dagmar. Sie wartete diesmal nicht ab, bis der Anrufbeantworter einsetzte, sondern legte vorher auf. Ich trank noch einen Kaffee. Nur, um etwas zu tun. Wieder klingelte das Telefon, diesmal sprach Dagmar erneut aufs Band. Was los sei. Ob sie sich Sorgen machen müsse. Ich solle sie doch bitte anrufen. Egal wann. Sie lege das Handy neben ihr Bett. Sie habe mir schon drei Nachrichten auf meinem Handy hinterlassen. Ich wisse doch ganz genau, daß sie warte. – Ich hatte sie ausdrücklich gebeten, nicht auf den Anrufbeantworter beim Festnetz zu sprechen, es könnte ja sein, daß David zufällig mithört oder daß er in Versuchung kommt und ihre Mitteilungen abhört, wenn er allein in der Wohnung ist. Sie war empört gewesen. David sei weder einer, der die Briefe anderer Leute lese, noch einer, der die Anrufbeantworter anderer Leute abhöre. Nach zwei Minuten klingelte es wieder. Als meine Stimme einsetzte, legte sie auf. So ging es durch die nächste Dreiviertelstunde. Ich löschte das Licht und setzte mich in die Bibliothek.
Um zwei hörte ich, wie er den Schlüssel im Schloß umdrehte. Ich hörte, wie die Tür vorsichtig geöffnet und vorsichtig geschlossen wurde. Ich hörte, wie er seine Jacke an die Garderobe hängte und sich die Schuhe auszog. Ich wollte ihn nicht erschrecken und schaltete das Licht ein.
»Gott sei Dank«, sagte ich.
»Ich geh’ gleich rauf«, murmelte er. »Ich bin müde.«
»Du hättest mir etwas sagen können oder jemand anderem. Daß du gehst. Ich versteh’ ja, daß die Party langweilig für dich war. Ich war verrückt vor Sorge.«
»Komisch«, sagte er.
»Setz dich noch eine Viertelstunde zu mir. Oder rauchen wir auf dem Dach noch eine.«
»Ich möchte lieber nicht.«
Das Telefon klingelte.
»Das ist deine Mutter«, sagte ich. »Soll ich abnehmen?«
Er antwortete nicht, und wir warteten, ob sie aufs Band spräche. Sie tat es nicht.
»Das weiß ich schon, daß ihr miteinander telefoniert«, sagte er.
»Woher weißt du das?«
»Der Herr Dr. Lenobel hat es mir gesagt. Er hat mir auch gesagt, daß du ihn angerufen hast, damit er sich ein Bild von mir machen soll. Er hat gesagt, er lehnt so etwas ab. Ich möchte jetzt bitte schlafen gehen.«
»Und warum sagst du mir das erst jetzt?«
»Das ist doch egal.«
»Also gut, reden wir morgen.«
»Morgen fahr’ ich. Ganz sicher fahr’ ich morgen.«
Als er die Bodenklappe im Arbeitszimmer heruntergelassen hatte, rief ich bei Dagmar an. Wir seien erst jetzt nach Hause gekommen, sagte ich, alles sei in Ordnung, wir hätten eine kleine Stadtnachtwanderung unternommen, etwas gegessen, uns unterhalten, in der Broadway-Bar noch etwas getrunken, nur so, hemingwaymäßig, das habe ihm gut gefallen, er sei bereits im Bett, weil saumüde. – Es war mir egal, ob er zuhörte; ich hoffte sogar, er tut es.
Mittwoch, 18. April 2001. – Neun Uhr vormittags.
Ich wachte auf, weil David an die Schlafzimmertür klopfte. Er wolle sich verabschieden, sagte er. Er hatte seine alten Sachen an. Ob er nicht mit mir frühstücken wolle. Nein. Aber dann setzte er sich doch in die Küche, als ich mir einen Kaffee aus der Maschine rinnen ließ. Ihm fiel nicht ein Wort ein. Mir auch
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