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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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nicht. Außer: »Brauchst du vielleicht noch etwas?« – »Nein.« Essen und Kaffeetrinken – mehr konnte ich offenbar nicht tun, um ihn zu halten.
    Das Telefon klingelte. Es war Frau Mungenast. Sie sagte, in der Nacht sei Professor Candoris gestorben. Als ich es David mitteilte, weinte er. Daß er Carl sehr gern gehabt habe; daß er ihn ein paarmal besucht habe; daß Carl öfter bei ihnen in Frankfurt gewesen sei; daß sie jede Woche einmal, am Ende jeden Tag miteinander telefoniert hätten. Daß ihn Carl gebeten habe, mich zu besuchen.
    Ich fragte ihn, ob er nicht doch noch ein paar Tage bei mir bleiben wolle. »Wir können gemeinsam zur Beerdigung nach Innsbruck fahren.«
    Das würde er gern, sagte er. Ich rief Dagmar an und erzählte ihr alles und gab den Hörer an David weiter.

Zweites Buch

Dritter Teil:
Tintendunkles Amerika

Neuntes Kapitel
1
    Martin hieß der eine, Roland der andere. Martin war so alt wie ich. Die Brüder wohnten gemeinsam mit ihrer Mutter draußen bei den Feldern. Vieh besaßen sie keines mehr. Der Boden war verkauft, das Haus war ihnen geblieben. In den Giebel über dem Eingang montierten sie einen Scheinwerfer, der brannte die Nacht über, beleuchtete die Müllhalde, auf der hier gelebt wurde. Zwei Schäferhunde patrouillierten, die lagen nicht an der Kette. Mein Vater, meine Mutter und ich waren spät dazugekommen, waren Fremde aus der fernen, verhaßten Hauptstadt; mein Vater war als Choleriker bekannt, der eine unbegreifliche Musik liebte und seine Schüler im Gymnasium Volkslieder auf eine Art singen ließ, die ihn als Spötter verdächtig machte – uns gegenüber verhielt man sich im Dorf reserviert. Mit den Rottmeiers aber wollte keiner etwas zu tun haben. Die Brüder repräsentierten die Endstation eines Niedergangs, das letzte, was von einer Familie übrigbleiben konnte, das Angebrannte unten im Topf. War bei den einen das Wohl nach dem Krieg vervielfacht worden, so hatten sich Haben und Charakter der Familie Rottmeier von Generation zu Generation halbiert. Martin Rottmeier, genannt Maro, und sein Bruder Roland, von dem alle als Chucky redeten, waren endlich bei null angelangt. Jeder im Dorf hatte Angst vor den beiden. Es gab nichts mehr, was sie hätten verteidigen, nichts mehr, was sie hätten verlieren können. Um zu haben, mußten sie nehmen. Ihr Vater hatte sich erhängt. Eigentlich habe er nur so tun wollen, als hänge er sich auf. Um zu drohen. Wem er drohen wollte und warum, wußte niemand und wollte niemand wissen. Er hat den Strick im leeren Stall an den Balken gebunden, mitten in der Nacht oder früh am Morgen, hat die Schlinge um seinen Hals gelegt, sich auf einen Schemel gesetzt und gewartet. Wollte den Erhängten spielen, wenn seine Frau am Morgen das Bett neben sich leer fände und ihn suchte und die Buben weckte und die ihn im Stall entdeckten, Kopf schief, Zunge bis zum Kinn, Augen weiß, Hände wie Krallen, Beine im X. Er war besoffen, und so ist er auf dem Schemel, Hals im Strick, Schlagader abgedrückt, eingeschlafen. Hatte noch eine Zigarette zwischen den Fingern, die Glut versengte den Fingernagel. Von nun an sorgte Maro für die Familie. Obwohl er der jüngere der beiden Brüder war. Maro brachte die Volksschule hinter sich, danach handelte er mit Gebrauchtwagen. Er handelte und reparierte und war an Diebstählen beteiligt. Fuhr mit einem Kleinlaster in der Gegend herum. Auf dem Fleck Boden um das Haus drängten sich im Dreck Autos ohne Nummernschilder, lagen auf Haufen Reifen, Auspuffe, Kardanwellen, Motorblöcke. Was Chucky machte, wußte ich nicht. Es hieß, er gehe jeden Montag zu Fuß nach Feldkirch zum Bahnhof, kaufe sich den Spiegel , und den lese er auf dem Rückweg von vorne bis hinten durch, die Reklame inbegriffen.
    Maro sei der brutale von den beiden. Hieß es. Ich habe nicht gesehen, wie er jemandem Gewalt angetan hat; ich habe gesehen, wie ihm Gewalt angetan wurde, Gewalt gegen Fleisch und Knochen. Bei einem Fest der Dorffeuerwehr haben ihn zwei Burschen festgehalten, und ein dritter schlug mit einem Gegenstand nach ihm. Maro war unter die Sitzbank gerutscht, er klammerte sich an das Brett, preßte seinen Kopf von unten dagegen, damit wenigstens ein Teil seines Gesichts geschützt war. Die Beine hatte er eng an den Körper gezogen. Das Hemd war ihm aus der Hose gerutscht, ich sah die weiße Haut und den Abdruck der Rückenwirbel über dem Gürtel. Aus seiner Brusttasche schaute eine Schachtel Smart Export. Sein Widersacher stand breitbeinig

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