Abendland
niemandem mehr. Schnitt mir die Haare. Lernte nur noch für die Schule. War der Beste in allen Fächern. Hatte kein Bedürfnis mehr, mies zu sein. Fand die Rolling Stones redundant. Verlor vorübergehend jedes Interesse an der Musik. War einer, dem die Bücher aus den Händen wuchsen. Upton Sinclair Der Dschungel , Gogol Die toten Seelen , Louis-Ferdinand Céline Reise ans Ende der Nacht , von Kafka alles, was zu haben war. Für meine Mitschüler war ich »der Wiener«; ich kannte nicht einmal die Hälfte meiner Klasse beim vollen Namen. Sie gingen mir aus dem Weg. Manche Lehrer fürchteten sich vor mir. Der Mathematiklehrer zum Beispiel und auch der Deutschlehrer. Ich genoß das. Ich war einer, von dem man sagt, er sei »mit dem Mund gut zu Fuß«. Mit den Mädchen hatte ich es nicht leicht. Ich stand mir selbst im Weg. Ich hatte mir mühsam ein Image zurechtgelegt, und von dem wurde ich nun überwacht, eifersüchtig, streng, tyrannisch und unnachsichtig. Wenn einer so tut, als ob er niemanden braucht, so glaubt man ihm das nach einer Weile sehr gern.
Ich absolvierte die Matura mit Auszeichnung. Am Tag meiner letzten Prüfung meldete ich beim Einwohnermeldeamt meinen Wohnsitz ab. Ich gab an, ich verlasse Österreich für immer, werde wahrscheinlich amerikanischer Staatsbürger werden. Der Beamte fragte mich, ob ich mir im klaren darüber sei, daß ich mich nicht in Österreich blicken lassen dürfe, ohne mich unverzüglich wieder anzumelden. Ich war mir darüber nicht im klaren, sagte aber, ich sei es. Ein Kompliment wäre es gewesen, wenn er mich einen Deserteur genannt hätte. Ich hatte mir einen Ruf aufgebaut, mit dem es nicht zu vereinbaren war, daß ich es zuließ, wenn einer mich brüllend aufforderte, mich schneller zu bewegen, damit die Scheiße in meinem Hirn besser durchgemischt werde – es wurde kolportiert, daß dieser und ähnliche Sprüche beim Bundesheer völlig normal seien; ich hätte, wollte ich nicht meinen Ruf aufs Spiel setzen, mich bei solcher Anrede zur Wehr setzen müssen, was mit größter Wahrscheinlichkeit größte Schwierigkeiten zur Folge gehabt hätte; also war es weise, dem aus dem Weg zu gehen.
Ich verließ Österreich aber nicht sofort, sondern blieb noch bis in den frühen Herbst. Wenn ich in die Stadt ging, zog ich die Schultern hoch und blickte zu Boden, und vor Uniformträgern flüchtete ich mich in Hauseingänge und Seitengassen, auch wenn es sich um Busfahrer oder Briefträger handelte. Anders als in den vorangegangenen Ferien arbeitete ich in diesem Sommer nicht. Ich hatte, seit ich sechzehn war, jedes Jahr einen höchst attraktiven und vor allem fixen Ferialjob gehabt, nämlich in Liechtenstein bei Kraus & Thomson, dem größten Antiquariat der Welt (mit einem Bestand von über fünf Millionen Büchern). Ich hatte mitgeholfen, einlangende Konvolute zu registrieren oder zum Beispiel den Grundstock für das Germanistische Institut einer neugegründeten deutschen Gesamthochschule zusammenzustellen; ich brauchte mich bei meiner Arbeit nicht zu beeilen, durfte, wann immer ich ein Buch interessant fand, mich in eine Ecke verziehen und darin schmökern, das wurde sogar gern gesehen, schließlich sollten die Mitarbeiter wissen, womit sie es zu tun hatten. Die Chefitäten wohnten in Milwood New York State, und Milwood New York State war weit, und daß sie ihre größte Filiale ausgerechnet in Liechtenstein, mitten im Ried in der Nähe eines Dorfes namens Nendeln, errichtet hatten, in dessen Wohnzimmern zusammengenommen nicht halb so viele Bücher standen wie in unserem Besucherraum, war sicher auch der großzügigen Hilfe der Liechtensteiner Behörden zu danken, die H.P. Kraus in den dreißiger Jahren auf der Flucht vor den Wiener Nazis aufgenommen und ihm geholfen hatten, mit seiner Familie nach Amerika zu emigrieren. Vor allem aber der liechtensteinischen Steuerpolitik der sechziger Jahre, die der Firma so viel ersparte, daß es sich ihre Angestellten ohne schlechtes Gewissen gemütlich machen durften. Vermittelt hatte mir den Job mein Deutschlehrer in der fünften Klasse Gymnasium, mit ihm hatte sich mein Vater angefreundet, Traugott Schneidtinger, ein massiger Mann mit langen weißen Haaren, er schrieb Gedichte, die ich um kein Haar schlechter fand als die von Paul Celan und von denen mein Vater einige vertonte und im Chor aufführte. (Prof. Schneidtinger hat mir später einmal – tatsächlich unter Tränen – erzählt, wie die Firma in Liechtenstein aufgelöst wurde, nachdem
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