Abendland
so kann kein Mensch in einem Buch lesen. Also setze ich mich neben ihn. Dann ist es gut.«
Carl nickte und lächelte. Ganz so, als kenne er diesen Freund, von dem hier gesprochen wurde, recht gut.
»Carl«, sagte ich, und ich versuchte ebenfalls zu spielen, einen Eifersüchtigen nämlich, was nicht gelang, ich war ja tatsächlich eifersüchtig, »meinst du, ich sei in Amerika einsam gewesen, nur weil du keine Geräusche von mir gehört hast, kein Klappern und kein Husten? Aber vielleicht hast du ja recht. Da habe ich von dieser Telefonzelle in Brooklyn aus versucht, dich aus meinem Leben zu weisen, und meinte tatsächlich, das sei mir auch gelungen. Habe dich nicht mehr angerufen, habe nicht mehr an dich gedacht, nicht sehr oft jedenfalls, habe, wenn ich ehrlich bin, sogar damit gerechnet, dich nie wiederzusehen. Und dann setze ich mich an die Arbeit, will mein erstes Buch schreiben. Denke mir: Wahrhaftig, das kommt alles aus mir, hier hat der große Mann nicht seine Hand drauf. Und dann?«
»Und dann«, beantwortete er ungerührt meine Frage, die ja gar keine war, »erzählst du Geschichten von Musikanten. Das kommt uns doch bekannt vor.«
»Würde ich das Buch lesen wollen?« fragte Frau Mungenast.
»Sie würden es lieben«, sagte Carl. »Gehen Sie zum Schreibtisch! In der großen Lade rechts liegen noch ein paar Exemplare der deutschen Erstausgabe. Ich habe mir gleich nach dem Erscheinen einen Schock besorgt. Nehmen Sie sich eines und lassen Sie es sich signieren!«
Elftes Kapitel
1
Die folgende Geschichte habe ich, wie bereits erwähnt, von Carl; und er hat sie von Rupert Prichett, seinem englischen Verbindungsoffizier; und Mr. Prichett hat sie von Lawrentij Sergejewitsch Pontrjagin, den ihm Emmy Noether kurz vor ihrem Tod in Princeton vorgestellt hatte und mit dem sich Mr. Prichett anfreundete. Lawrentij Sergejewitsch Pontrjagin schließlich hat die Geschichte von Ksenia Sixarulize; sie hatte sie ihm erzählt, als sie 1940 nach ihrer Flucht aus Sowjetrußland nach New York gekommen war, wo er sie bei sich in seiner winzigen Wohnung an der Lower Eastside aufnahm und wo er sich bis zu ihrem Tod wenige Monate später um sie kümmerte.
Im Jahr 1938 erschien in Tiflis jene bis heute in Georgien und im gesamten Kaukasus und in Fachkreisen weit darüber hinaus berühmte Sammlung georgischer Märchen, die Dr. Ksenia Sixarulize zusammengetragen und vorzüglich kommentiert hatte. Das Buch war, wie in diesen Jahren anders gar nicht denkbar, dem Vater des Vaterlandes, Jossif Stalin , gewidmet. In einem Festakt sollte es in der Akademie der Wissenschaften in Moskau präsentiert werden. Wenige Tage vorher erfuhr Frau Sixarulize, daß ihr bei dieser Gelegenheit ein Orden verliehen werden sollte, und zwar aus der Hand des Parteivorsitzenden; Stalin hatte es so angeordnet, er wollte seiner Landsmännin die Auszeichnung persönlich überreichen. Frau Sixarulize bekam es mit der Angst zu tun. Noch kein Jahr war es her, als einem ihrer besten Freunde, nämlich Jossif Aszaturow, der Lenin-Orden verliehen worden war. Er hatte eine wichtige Brücke geplant und war vorzeitig damit fertig geworden. Damals hatte ebenfalls Stalin den Orden überreicht, ebenfalls ohne vorherige Absprache mit der zuständigen Behörde. Nach der Verleihung hatten unten in der Garderobe zwei Männer auf Aszaturow gewartet. Er wurde ohne Angabe von Gründen in die Lubjanka gebracht und verhört. Aszaturow habe den Polizisten den Lenin-Orden gezeigt, den er erst zwei Stunden zuvor aus der Hand des Parteivorsitzenden in Empfang genommen hatte, er habe das goldglänzende Stück zwischen Daumen und Zeigefinger vor sich hin gehalten. Es hatte ihm nichts genützt, man verschleppte ihn nach Jerewan und warf ihn in ein Gefängnis, dort wurde er an den Füßen aufgehängt. Stalin selbst hatte das Todesurteil unterschrieben. Die Gründe dafür kannte niemand.
In seiner Laudatio auf Ksenia Sixarulize dankte Stalin der Wissenschaftlerin, daß sie sich so unermüdlich für das Volkstum seiner Heimat einsetzte. Er sprach ungewohnt lange und in ungewohnt persönlichem Ton, erzählte Geschichten aus seiner Kindheit und ließ einmal mitten im Satz eine lange Pause, die viel zu lang war, um eine rhetorische Pause zu sein, und deshalb von den Anwesenden als ein Zeichen von innerem Bewegtsein gedeutet wurde. Ein Exemplar des Buches war in georgischem Ziegenleder gebunden worden, dieses überreichte Frau Sixarulize dem Vorsitzenden als Geschenk. – In der Garderobe
Weitere Kostenlose Bücher