Abendland
wartete niemand auf sie.
In der Staatslimousine auf dem Rückweg zum Kreml blätterte Stalin in dem Band und schlug zufällig das Märchen mit dem Titel Chutkuntschula auf. Während seiner Kindheit hatte tatsächlich ein Mann in Gori gelebt, den nannte man nach dem Helden dieses Märchens »Chutkuntschula«. Er war ein Musikant gewesen, einer, der auf Hochzeiten spielte und bei Beerdigungen, bei Geburtstagen reicher Leute, aber auch an den Feierabenden der Armen. Es hatte geheißen, er sei der beste Tschongurispieler in Georgien und einer der besten Sänger dazu. Stalin gab in derselben Stunde seinem Sekretär den Auftrag, nachzuforschen, ob dieser Mann noch lebe, und er bekam zur Antwort: Ja, der Mann heiße Grigol Beritaschwili, sei vierundachtzig Jahre alt und bei guter Gesundheit und halte sich immer noch in Gori auf. Am folgenden Tag fuhr Stalin in einem gepanzerten Eisenbahnwagen nach Tiflis, und in den nächsten Morgenstunden stand er vor dem kleinen Haus etwas außerhalb der Stadt Gori am Ufer der Kura. In seiner Begleitung waren zwei Soldaten, die schlugen an die Tür. Das Schloß wurde geöffnet, und da stand – Chutkuntschula. Stalin erkannte ihn sofort, sein Haar war weiß, die Schneidezähne fehlten wie bereits vor vierzig Jahren, das Gesicht war faltig und dunkel.
Grigol Beritaschwili hatte in seinem Leben viele Lieder gesungen, und in vielen Liedern war von überirdischen Dingen erzählt worden, aber selbst hatte er nie an überirdische Dinge geglaubt. Nun aber stand der Herrscher der großen Sowjetunion vor ihm, der in Georgien Koba genannt wurde, der Unbeugsame. Er sah im Licht der Laterne das vernarbte Gesicht, sah, daß der linke Ärmel seines Armeemantels umgeschlagen war, und erkannte daran, daß der linke Arm kürzer war als der rechte, sah die ratlosen Mienen der Soldaten, die mehr Angst zu haben schienen als er selbst; er wußte, daß so klares Anschauen nur im wahren wachen Leben möglich war, daß es sich also weder um einen Traum noch um Verrücktheit handelte. Er trat beiseite, und Stalin, gefolgt von den beiden Soldaten, bückte sich in das Haus.
Stalin setzte sich an den Tisch und knöpfte seinen Mantel auf. »Chutkuntschula«, sagte er und noch ein-, zwei-, dreimal: »Chutkuntschula.«
»Koba«, antwortete Grigol Beritaschwili jedesmal.
»Besitzt du noch deine Tschonguri?« fragte Stalin. »Wenn ja, hol sie, Chutkuntschula, und spiel mir etwas vor!«
»Sie ist oben in meiner Schlafkammer. Sie liegt neben meinem Strohsack, damit ich sie fassen kann, wenn ich am Morgen erwache. Ich bin ein alter Mann, es wird dir sicher zu lange dauern, wenn ich aufstehe und sie hole. Schicke einen deiner Soldaten hinauf!«
Grigol Beritaschwili dachte nämlich bei sich: Wenn ich hinaufsteige in meine Kammer, in der es dunkel ist, werde ich Angst bekommen und aus dem Fenster springen und davonlaufen. Wahrscheinlich werde ich mir bei dem Sprung die Beine brechen, sicher würden mich die Soldaten erwischen. Er wußte, daß die Angst stärker ist als alle Vernunft, und deshalb wollte er ihr erst gar nicht die Gelegenheit geben, ihn zu verführen. – Ein Soldat holte die Tschonguri, und Grigol stimmte ihre vier Saiten.
»Was soll ich für dich spielen, Koba?« fragte er.
»Ein besonderes Lied ist es«, sagte Stalin. »Du hast es vor vierzig Jahren gespielt. Ich kenne es, aber ich weiß seinen Namen nicht.«
»Ein trauriges Lied oder ein fröhliches?«
»Ein trauriges Lied, Chutkuntschula.«
»Ein trauriges, so. Es wird sich also um ein langsames Lied handeln, habe ich recht, Koba?«
»Ja, es war ein langsames Lied.«
Stalin verschränkte seine Arme, das hieß, das mußte heißen: Reden wir nicht, spiel! – Ich weiß aber nicht, welches Lied er meint, dachte Grigol. Mindestens hundert Lieder kenne ich, die langsam und traurig sind.
»War es vielleicht dieses?« Er schlug einen Akkord an und begann zu singen. Einer der Soldaten kannte das Lied und stimmte mit ein.
»Das ist es nicht!« unterbrach Stalin.
Es ist gut, daß es das nicht war, dachte Grigol. Wenn ich’s gleich beim erstenmal getroffen hätte, wäre ihm womöglich alles zusammen nicht viel wert gewesen – das Lied nicht und ich auch nicht.
»Kannst du mir vielleicht noch ein paar weitere Worte zu dem Lied sagen, Koba?«
»Ich glaube, das Meer ist in dem Lied vorgekommen«, sagte Stalin.
»Bist du sicher, es war das Meer? Nicht vielleicht ein Fluß, unsere Kura zum Beispiel?«
»Nein, das Meer, sicher das Meer.«
»Kannst du
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