Abendland
Maybelle und ich hätten erst vor kurzem das Anwesen der Roosevelts besucht – »um zu recherchieren«). Der zufolge sei Mr. Guthrie ausgerechnet am Nachmittag des 7. Dezember 1941 von Präsident Roosevelt und dessen Frau Eleanor nach Hyde Park eingeladen worden. Der Präsident habe mit dem Sänger eine – wie es Woody Guthrie in einem der vielen Interviews mit Alan Lomax genannt hatte – »politisch höchst brisante Sache« zu bereden gehabt. Das Zusammentreffen war übrigens auf Vorschlag und Vermittlung von John Steinbeck zustande gekommen. Der Präsident hatte den Schriftsteller als Mitstreiter gegen die isolationistische Stimmung im Land gewinnen wollen. Im Gegensatz zur Mehrheit der Bevölkerung wünschte der Präsident nämlich, daß Amerika an der Seite Englands in den Krieg gegen Hitler eintrete. »Sie sind der Homer des modernen Amerika«, hatte er (so William Hasset, Roosevelts Privatsekretär, später vor Alan Lomax) zu Steinbeck gesagt. »Ihr Tom Joad ist ein moderner Odysseus. Schreiben Sie einen Roman über einen modernen Achill!« – »Homer war ein Sänger«, habe Steinbeck geantwortet. »Romane sind für Menschen, die lesen wollen und lesen können. Solche gibt es leider nicht allzu viele in Amerika.« Und er hatte dem Präsidenten von Woody Guthrie erzählt; und daß The Grapes of Wrath unter anderem deshalb so bekannt sei, weil dieser Sänger in nicht weniger als einem guten Dutzend Lieder ( The Dust Bowl Ballads ) den Inhalt des Buches singend nacherzählt und auf diese Weise den Roman auch Leuten nahegebracht habe, die nicht lesen und schreiben können oder nicht über die Mittel verfügen, das Buch zu kaufen. »Wenn es einen Homer des modernen Amerika gibt«, so John Steinbeck, »dann Woody Guthrie.« – Woody Guthrie erzählte: Er, der Präsident und dessen Frau hätten an diesem 7. Dezember des Jahres 1941 gemeinsam ein Projekt entwickelt – ein Epos, bestehend aus achtundvierzig Songs, für jeden Bundesstaat einen, jeder Song achtundvierzig Strophen umfassend, jeder Song die Geschichte eines amerikanischen Mannes oder einer amerikanischen Frau oder einer amerikanischen Familie erzählend. Es seien auch gleich die Bedingungen ausgehandelt worden: Alle großen Sender des Landes werden die Songs täglich spielen, zu jeder Stunde des Tages zwei Songs. Guthrie bekommt zudem zusammen mit dem Produzenten Norman Corwin eine fixe Sendung auf CBS, in der er singt und erzählt und auf Hörerpost eingeht. Die Regierung zahlt. Die Songs werden auf Platten gedruckt und so billig verkauft, daß sie sich jeder leisten kann. Das Gespräch – so Guthrie – sei unterbrochen worden, weil William Hasset zur Tür hereingekommen sei und sich über den Präsidenten gebeugt und ihm etwas ins Ohr geflüstert habe. Dem Präsidenten sei plötzlich ein blöder Ausdruck im Gesicht gestanden, der habe eine Minute lang angehalten. Schließlich habe sein Gesicht wieder Farbe bekommen, und er habe gesagt: Entschuldigen Sie mich, Mr. Guthrie. Und zu seiner Frau habe er gesagt: Kümmere dich bitte weiter um unseren Gast. William Hasset schob den Rollstuhl mit dem Präsidenten aus dem Salon, und Eleanor Roosevelt gab dem Chauffeur Anweisung, Mr. Guthrie in die Stadt zurückzufahren. Zum Abschied sagte sie, sie sei überzeugt, der Liederzyklus werde eine der größten kulturellen Leistungen Amerikas in diesem Jahrhundert werden. Bereits auf der Fahrt von Hyde Park nach New York City habe er über den ersten Song nachgedacht, erzählte Woody Guthrie Alan Lomax aufs Band, der Song sollte vom berühmtesten Bürger des Staates New York erzählen, eben von Franklin Delano Roosevelt, der mit seinem New Deal so vielen Menschen die Hoffnung zurückgegeben habe. Eine Refrainzeile hatte sich Guthrie notiert: The world was lucky to see him born … – Als ihn der Chauffeur am Grand Central Terminal absetzte, war es Nacht, und Amerika war in Aufruhr. Japanische Bomber hatten auf Pearl Harbor die amerikanische Pazifikflotte versenkt; das war es gewesen, was William Hasset dem Präsidenten ins Ohr geflüstert hatte. Am nächsten Tag erklärten die Vereinigten Staaten von Amerika Japan den Krieg. Hitler reagierte darauf, indem er seinerseits den USA den Krieg erklärte. Nun war es nicht mehr nötig, Songs zu schreiben, um aus guten Amerikanern gute Weltbürger zu formen. Nach dem Tod von Präsident Roosevelt – er starb wenige Tage vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs – schrieb Woody Guthrie ein Lied für die Witwe Eleanor
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