Abendland
vielleicht zwei, drei Töne singen, Koba?«
Stalin brummte zwei, drei Töne. »So ungefähr.«
»Jetzt weiß ich es!« rief Grigol. »Es kann eigentlich nur das folgende Liedchen sein.«
»Seht ihr«, wandte sich Stalin an die Soldaten. »Seht ihr, schon haben wir, was wir wollten. Und jetzt sing, Chutkuntschula!«
Grigol sang den Anfang eines bekannten Liedes, das so bekannt war, daß sich sogar die Soldaten anschauten, die vielleicht aus irgendeinem anderen Land der großen Sowjetunion stammten.
»Nein, nein! Das doch nicht!« rief Stalin. »Dieses Lied kenne ich doch! Ich hätte doch gleich sagen können, spiel das! Dieses Lied kennt doch jeder!«
Wenn ich, dachte Grigol, noch einmal ein falsches Lied anstimme, wird sich Koba vor seinen Soldaten für mich schämen, weil der, auf den er gesetzt hat, nichts wert ist. Das kann mir nicht gleichgültig sein. Er weiß nicht, was für ein Lied er meint, er weiß nur, wenn er eines nicht meint. Aber, dachte Grigol Beritaschwili, ist es nicht so, daß alle langsamen, traurigen Lieder irgendwie ähnlich klingen? Kaum einer kennt so viele langsame, traurige Lieder wie ich, und ich sage: Fast alle klingen sie gleich. – Also ließ er die Finger selbst einen Akkord suchen und begann zu summen.
»Das ist gut, Chutkuntschula«, rief Stalin. »Ich glaube, jetzt hast du es.«
Grigol, der ein schlauer Mann war und deshalb Chutkuntschula genannt wurde, weil der Chutkuntschula im Märchen auch ein schlauer Mann war, der sich nicht nur gegen die Angriffe seiner Brüder zur Wehr setzte, sondern am Schluß auch den Riesen besiegte, den seine Brüder angeheuert hatten, ihn zu töten; Grigol sang und spielte und – erfand im Augenblick Wort für Wort, Ton für Ton, das Lied, an das sich Stalin zu erinnern glaubte. Und Stalin hörte zu, nickte und weinte und ging.
Der Sänger aber blieb sitzen, bis die Sonne über den Bergen aufging. Er blieb sitzen bis zum Mittag. Er legte die Arme auf den Tisch und den Kopf auf die Arme und schlief ein. Am Nachmittag pumpte er Wasser in den Holzeimer und goß die Setzlinge, die hinter dem Haus in Säcken aufgereiht waren wie Buben in Schulbänken. Er stimmte die Tschonguri nach, aber nicht einmal der erste Akkord des Liedes fiel ihm ein. Er nahm das Geld, das einer der Soldaten auf Stalins Befehl auf den Tisch gelegt hatte, und ging hinunter zur Straße. Die Händler verneigten sich vor ihm. »Welche Ehre, Chutkuntschula!« Sie füllten einen Korb mit Sachen und sagten, den Korb brauche er nicht zurückzubringen, den solle er ruhig behalten, und Geld nahmen sie keines von ihm. Denn sie hatten erfahren, was in der Nacht geschehen war. Zu Hause aß er die guten Sachen und trank den guten Wein. Schließlich stimmte er wieder die Tschonguri. Eine Melodie fiel ihm ein. Sie kam ihm bekannt vor und auch wieder nicht. Er ließ den Mund selbst die Worte suchen. Nur das Meer sollte vorkommen, alles andere überließ er seinen Lippen. Er sang und spielte das Lied so lange, bis er es sich gemerkt hatte. Er ging hinter das Haus, redete mit seinen Setzlingen, sah zu, wie die Sonne über der Kura unterging. In der Nacht spielte und sang er das Lied noch ein paarmal, feilte, verlängerte und verkürzte. Endlich stieg er in seine Kammer hinauf und legte sich schlafen.
Chutkuntschula, der Tschongurispieler aus Gori, wurde bald wieder zu Parteiveranstaltungen und Hochzeiten, zu Jahrestagen und Erntefesten eingeladen. Er wurde berühmter, als er je gewesen war. Überall, wo er sang und spielte, wollten die Leute das Lied hören, das er dem Vater des Vaterlandes in jener Nacht vorgespielt hatte. Er nannte es: »Tebrone midis zchalse!« – »Tebrone, geht Wasser holen!«
Es war ein Märchen, war ein Märchen
Im Wäldchen war ein Vogel gestorben
Ich legte ihn auf den Zaun, da war er vertrocknet
Ich nahm ihn herab, da war er verfault
In einen großen Kessel paßte er nicht
In einem kleinen war er zu klein
Hundert Leute konnten ihn nicht aufessen
Er war ein Bissen für einen Mann
Und der Mann schwamm durch das Meer
Wie ein Vogel durch die Luft fliegt.
Grigol Beritaschwili, genannt Chutkuntschula, starb im Jahr 1958 im Alter von hundertundvier Jahren. Bis zuletzt hatte er seinen Haushalt allein geführt, und jeden Abend habe er, wird in Gori erzählt, auf seiner Tschonguri gespielt.
Zu dieser Geschichte kontrastierte ich eine Geschichte über den Folksänger Woody Guthrie. Fabian McKinnon hatte sie mir erzählt (nachdem ich ihm erzählt hatte,
Weitere Kostenlose Bücher