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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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und in Salt Lake City nach einem von den Kupferbossen geschmierten Prozeß am 19. November 1915 hingerichtet wurde (Joan Baez sang in Woodstock: I dream I saw Joe Hill last night / alive as you and me / says I »But, Joe, you’re ten years dead« / »I never died« said he … ), lag mir ein Typoskript vor, eine kopierte Dissertation von der UC Berkeley, die Sarah Jane beschafft hatte. Ich las bis acht, dann wusch ich mich, frühstückte und fuhr nach Manhattan hinüber.
    Die Recherche war aufregend. Finden und Erfinden trieben ihr Spiel miteinander wie in einem Vexierbild. Es fiel mir nicht ein, mich auf ein seriöses Studium eines Themas oder der Personen, über die ich schreiben wollte, einzulassen – nein, ich vertraute auf den Zufall als meinen Freund; was mir zuflog, nahm ich als ein Geschenk und als den Auftrag, es auch zu verwenden. Als ich eines Morgens über die Madison Avenue ging, kam ich an einem ungewöhnlich schmalen Haus vorbei, das zwischen zwei Hochhäusern eingeklemmt war. Auf einem Schild konnte ich lesen, daß hier das Institute for Austrian Literature and Art untergebracht sei. Ohne lange zu überlegen, trat ich durch die Tür. Der Donauwalzer von Johann Strauß klang mir entgegen, und im selben Augenblick stand fest, daß ich den Walzerkönig mit dem King of Swing zusammenführen würde, Johann Strauß mit Duke Ellington. Eine junge Frau in einem luftigen türkisenen Kleidchen kam mir entgegen, entschuldigte sich in deutlich kärntnerischem Englisch, daß das Institut erst um zehn öffne, daß sie vergessen habe abzusperren und daß sie mir wahrscheinlich gar nicht helfen könne, sie sei nämlich nur eine Volontärin für einen Sommer lang und erst seit wenigen Tagen im Institut, aber wenn ich am Nachmittag wiederkommen wolle, da sei der Herr Botschaftssekretär hier, allerdings nur für eine Stunde. Ich antwortete in breitem Wienerisch, ich sei zufällig vorbeigekommen. Sie schien sehr erleichtert. Sie sei seit drei Tagen allein im Institut, abgesehen von der Stunde am Nachmittag, in der der Botschaftssekretär vorbeischaue; ich sei ihr vierter Besuch, die drei anderen hätten jeder einen Zirkus aufgeführt, der eine sei von weither angereist, angeblich, weil ihm ein Treffen versprochen worden sei, der andere habe Geld abholen wollen, der dritte sei wahrscheinlich ein Verrückter gewesen. Nun also ich.
    Dorothea zeigte mir die Bibliothek. Zwischen Alfred Einsteins Mozart und einer rororo-Monographie über Schubert fanden wir Marcel Prawys Johann Strauß. Weltgeschichte im Walzertakt und gleich daneben Das Walzerbuch von Franz Endler. Ob ich die Bücher ausleihen dürfe, fragte ich. Das wisse sie nicht, sagte sie, sicher aber dürfe ich sie hier im Institut lesen. Ich setzte mich in die Bibliothek und machte mir Notizen; und am nächsten Tag klingelte ich um neun an der Tür Madison Avenue 15.013, und Dorothea ließ mich ein und schloß hinter mir ab, so hätte ich wenigstens die Stunde bis zum Beginn des Parteienverkehrs, in der ich absolut ungestört arbeiten könne, sagte sie. Auch von zehn bis elf und von elf bis zwölf konnte ich ungestört lesen; ich bin während der guten Woche, in der ich dort arbeitete, nie einem anderen Besucher begegnet. Ich studierte bis in die Werbeseiten hinein österreichische Zeitungen und Zeitschriften, die allesamt viele Tage alt waren, exzerpierte den Prawy und den Endler und las zwischenhinein einen rührenden Roman über Franz Gruber, den Komponisten von Stille Nacht, Heilige Nacht . Dorothea saß unten in dem kleinen Büro gleich beim Eingang, ich im ersten Stock in der Bibliothek, manchmal unterhielten wir uns rufend, manchmal trank ich bei ihr unten einen dünnen Kaffee, und wir aßen dazu die Muffins, die ich mitgebracht hatte, oder sie kam mit zwei Tassen herauf in die Bibliothek, allerdings erst, nachdem sie vorher die Tür zur Straße abgeschlossen hatte; man könne in dieser Stadt nicht vorsichtig genug sein. Wir sprachen über John Lennon, der uns beiden viel bedeutet hatte; sie erzählte mir aus ihrem Leben und von ihren Eltern, die ihr Kummer bereiteten, weil sie es nicht mehr miteinander aushielten. Irgendwann küßte ich sie, und sie schob mir ihre Zunge in den Mund, und mir war so wohl dabei, daß ich tatsächlich mit keinem Gedanken bei Maybelle war und bei meiner Arbeit auch nicht. Es könne aber nichts daraus werden, sagte sie gleich; sie habe nämlich einen Freund, den sie liebe, der sei ebenfalls in New York, er arbeite als

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